Freitag, 23. Juni 2017

Vorgeschichte Kapitel 27

27. So nimmt es seinen Lauf

Robyn



Die Sonne war bereits vor gut vier Stunden untergegangen, hatte einem sichelförmigen Mond Platz gemacht. Hier und da konnte man sogar vereinzelt ein paar Sterne am verhangenen Firmament ausmachen. Trotzdem lag ein angenehmes Klima über dem gehobenen Villenviertel. Die Luft war trocken und warm, ein paar Grillen zirpten und hier und da hörte man das elektrische Surren der Straßenlaternen, ansonsten war es jedoch mucksmäuschenstill. Fast als hätte jemand einen Knopf gedrückt und alles menschliche Leben aus diesem Bereich der Wüstenortschaft verdrängt. 
Natürlich war das ein unsinniger Gedanke, Robyn wusste das in den umliegenden Häusern Menschen friedlich in ihren Betten lagen und vor sich hin schlummerten. Nicht in jedem aber in einigen. Er sah sogar hinter ein paar der Fenstern sanftes, gedämpftes Licht nach außen dringen. Glücklicherweise jedoch auch nur dort und nicht aus der Villa vor dessen Mauer er gerade stand, rechts und links neben sich seine zwei besten Freunde.
Noch konnten sie die Sache abblasen, noch konnte er sich doch dagegen entscheiden, es als zu gefährlich und riskant abstempeln und einfach sein lassen. Doch dann würde Lucy es alleine versuchen, würde ohne Pläne da rein gehen, würde sich und wahrscheinlich auch ihn und seine kleine, halbwegs heile Familie in Gefahr bringen.
Ein tiefes Seufzen rollte ihm über die Lippen, lenkte die Aufmerksamkeit der Jungs auf ihn. Er spürte ihre fragenden, forschenden Blicke, zuckte zur Antwort allerdings nur mit den Achseln und nickte in Richtung der hohen Steinmauer. Weiter darüber nachzugrübeln würde ihn nur unnötig viel Zeit kosten die sie nicht hatten. Wer wusste schon wie lange diese Dawn außer Haus sein würde. Sie mussten sich beeilen wenn sie nicht erwischt werden wollten.
Das war dann auch der Grund aus dem der junge Blondschopf nicht mehr länger zögerte, sich von den zwei jungen Männern nach oben stemmen ließ und sich schließlich an der Mauer hinauf zog. Er machte sich gar nicht erst die Umstände sich aufzusetzen und zu riskieren leichter von einem zufälligen, verirrten Blick gesehen zu werden, schob sich stattdessen bäuchlings über die Kante und ließ sich auf der anderen Seite der Mauer wieder zu Boden fallen.


Leichtfüßig kam er auf dem saftigen, dunklen Gras auf, federte seinen Fall mit den Beinen ein wenig ab und schlich geduckt, den Kameras ausweichend, auf die hintere Hauswand zu. Er hatte den perfekten Einstieg für sich bereits gefunden, ein geöffnetes Fenster im zweiten Stock. Er wusste ganz genau wie er dort hinein gelangen würde, er musste nur darauf achten von niemandem gesehen zu werden. Aber das dürfte kein allzu großes Problem darstellen. 
Mit seinen dunklen Klamotten hob er sich nicht sehr von der ebenfalls dunklen Umgebung ab. Einzig die Hauswände würden ein kurzes, gefährliches Risiko darstellen, doch da er dort ohnehin nur ein paar Wimpernschläge zu sehen sein würde, hoffte er einfach mal darauf dass niemand im falschen Moment einen zufälligen Blick herüber warf.

Das Glück schien ihm hold zu sein und der Junge gelangte unbehelligt über das hölzerne Pflanzengitter auf den schmalen Vorsprung und danach durch das geöffnete Fenster ins Innere des Gebäudes. Als er sich vorsichtig in dem kleinen Raum umsah, stellte er fest dass es sich hierbei wohl um das Arbeitszimmer dieser Dawn handelte.
Bevor er jedoch auch nur einen falschen Fuß setzte, ließ er den Blick aufmerksam über Wände, Möbelstücke und die Decke gleiten, immer auf der Suche nach Kameras oder ähnlichen elektronischen Geräten die seine Anwesenheit verraten könnten. Selbstverständlich war ihm bewusst, dass das Gebäude wahrscheinlich eine Alarmanlage hatte und es wohl sicher auch Geräte gab die er nicht einfach so mit Blicken ausfindig machen konnte. Das war auch einer der Gründe aus denen er darauf achtete, dass man so gut wie nichts von seinem Gesicht und auch seine Haare nicht sehen konnte. Die Sturmhaube die er trug war dafür nahezu perfekt. Die Tattoos versteckten sich selbstverständlich ebenfalls unter dem Stoff seiner dunklen Kleidung und den schwarzen ledernen Handschuhen.
Dadurch hatte er gute Chancen unerkannt zu bleiben, selbst wenn die Frau herausfand dass irgendjemand in ihr Haus eingebrochen war. Oder es vielleicht sogar schon wusste und sich bereits auf dem Heimweg befand. Oder jemanden geschickt hatte. Unglücklicherweise war Robyn sich ziemlich sicher, dass genau das der Fall war und deshalb war auch Eile geboten. Er wollte sich ganz sicher nicht auf frischer Tat von einer Mafiosi erwischen lassen. Nicht auszudenken was die Frau ihm alles antun könnte. Nein das wollte er definitiv nicht herausfinden.
Sein Blick fiel auf den Computer der da wie auf dem Präsentierteller auf dem Schreibtisch stand. Einige Herzschläge lang wägte er sogar ab ob er es versuchen sollte, verwarf den Gedanken allerdings noch bevor er es wirklich ernsthaft hätte in Erwägung ziehen können. 


Die Chance dass der PC nicht mit einem Passwort geschützt war, war so gering dass es das Risiko nicht wert war. Und es auf die Schnelle herauszufinden war ebenfalls vollkommen unrealistisch. Robyn war vielleicht intelligent aber das überstieg seine Fähigkeiten doch bei Weitem. Selbst wenn er Dawn gut gekannt hätte war es sehr wahrscheinlich dass ihr Passwort nichts war das man mit ihr hätte in Verbindung bringen können. Der Blondschopf konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Mensch der sich so weit hochgearbeitet hatte in der kriminellen Szene, so dumm sein könnte ein unsicheres Passwort zu verwenden.
Lautlos seufzend schlich er also weiter durch den Raum, blieb allerdings an der Tür noch einmal stehen und warf einen sacht beunruhigten Blick zurück auf das offene Fenster. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. War sie wirklich so dumm gewesen es versehentlich offen zu lassen? Oder war es Absicht gewesen? Nervös leckte er sich über die Lippen, starrte die noch geschlossene Tür vor sich an und war sich gerade ganz und gar nicht mehr sicher ob er sie wirklich öffnen sollte.
Was wenn sie mich erwartet? Wenn sie wusste dass ihr Haus beschattet worden ist und sie jetzt nur darauf wartet dass sich die Verantwortlichen zeigen? Wenn es eine Falle ist?
Das mulmige Gefühl nahm mit jedem Herzschlag zu, zwang ihn nun sogar dazu einen Schritt zurückzutreten. War es das wirklich wert? Die vernünftige Antwort wäre wohl ein klares 'Nein' gewesen. Und das wusste er auch. Nur änderte es leider nichts an seiner Situation und an Lucys Vorhaben schon gar nicht, da war er sich sehr sicher.
Statt sich also der Türklinke zuzuwenden, drehte er sich wieder herum und schlich durch den Raum auf die verschiedenen Aktenhaufen und Kartons zu. Er wusste dass er nicht viel Zeit hatte aber wenn er schon mal da war, würde er die Gelegenheit auch beim Schopf packen. Rasch blätterte er einen Ordner nach dem anderen durch, überflog sie jedoch alle nur sehr flüchtig. 
Nicht nur weil die Zeit knapp wurde... der Inhalt ließ ihm übel werden. Zuhälterei... Menschenhandel... ein kalter Schauer nach dem anderen jagte ihm über den Rücken. Das war einfach nur widerlich. Diese Frau war ein Monster. Ein ekelhaftes Monster. 

Angewidert wandte er sich schlussendlich ab, er hatte genug gesehen. Hier war nicht viel zu finden und Robyn wollte nicht noch mehr von dem Inhalt den Akten sehen. Er überlegte einen Augenblick ob es nicht vielleicht sogar besser wäre die Aktion gleich vollständig abzublasen und sich sofort aus dem Staub zu machen, entschied sich dann allerdings doch dagegen.
Lautlos schlich er sich nun also abermals durch das Fenster, kletterte zurück auf den schmalen Vorsprung und ließ sich von diesem herab hängen. Ohne großartig zu zögern, ließ er sich fallen, federte wie vorhin leichtfüßig seinen Sturz ab um daraufhin leise zur nahen Hintertür der Villa zu hasten.


Es war sehr wahrscheinlich, dass auch diese mit einer Alarmanlage gesichert war doch wenn er Glück hatte war im Augenblick alle Aufmerksamkeit auf das Büro im ersten Stock gerichtet. Tief atmete er ein und aus und machte sich nun daran das Schloss so vorsichtig und leise wie möglich zu knacken. Nach dem was er oben in den Akten gefunden hatte, wollte er dieser Frau nun noch sehr viel weniger in die Hände fallen.
Die Vorstellung daran verdrängend, verschwand er abermals nach drinnen, setzte die Alarmanlage außer Kraft und verschaffte sich einen schnellen Überblick über seine nähere Umgebung. Nichts was er nicht bereits von außen gesehen hatte. Ein sehr großer offener Bereich, Esszimmer, Wohnzimmer und Küche in einem, außerdem eine breite Treppe nach oben und drei abgehende Türen in seiner unmittelbaren Nähe. 
Kurz lauschte er ob er von irgendwo Geräusche vernahm, wurde allerdings mit nach wie vor vollkommener Stille belohnt. Merkwürdig. Er war sich wirklich sicher gewesen dass es eine Falle war und irgendjemand oben auf ihn warten musste. Sein Blick richtete sich auf die Stufen, folgte ihnen hinauf in die Dunkelheit und entfachte eine sachte Gänsehaut in seinem Nacken. Nein, da würde er definitiv nicht hochgehen. Pläne hin oder her aber er hatte das Gefühl dass er oben erwartet wurde.
So entschied er sich nun also erstmal die Tür direkt neben der Treppe in Augenschein zu nehmen, fand dahinter allerdings nichts spannenderes als ein geräumiges Badezimmer. Er wandte sich ab, warf einen kurzen Blick in das Schlafzimmer das er bereits von außen gesehen hatte und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die letzte der drei Türen. Auch hier hatte er ein klein wenig von außen sehen können. Es war eine Art Abstellkammer.
Eigentlich auch nicht wirklich interessant, wäre da nicht die Halbwand die von außen irgendetwas zu verbergen schien. Kurz zögerte er, öffnete die Tür dann aber doch und schlich sich leise hinein. Hinter sich schloss er sie lautlos wieder, trat auf die Wand zu und wurde mit dem Anblick einer schmalen Treppe in den Keller belohnt. Das war doch schon deutlich interessanter. Vielleicht gab es dort unten etwas zu finden.
Schritt für Schritt wollte er hinuntergehen, verharrte dann allerdings auf halbem Weg als er ein rotes kleines Lämpchen in der Dunkelheit aufblitzen sah. Eine Kamera. Wenn er weiter ging würde er mit Gewissheit entdeckt werden und sollte sich irgendjemand oben befinden der auf ihn gewartet hatte, so würde dieser Jemand unter Garantie sofort nach unten kommen. Und dann saß er in der Falle. 


Die Frage war nun, war irgendjemand oben und war es das Risiko wert es herauszufinden? Eigentlich nicht. Trotzdem zögerte der Junge wieder umzukehren. Bisher hatte er nichts außer das Arbeitszimmer und das Erdgeschoss unter die Lupe genommen. Und hier war mehr als offensichtlich genau der Bereich, der für sie von Bedeutung war. Irgendetwas schien Dawn hier verbergen zu wollen, anders konnte er sich die Kamera nicht erklären. War nur die Frage ob es für ihn und Lucy von Interesse war oder ob es nur irgendetwas war was eine Mafiosi eben geheim halten wollte. So wie die Akten in ihrem Arbeitszimmer.
Lautlos aber schwer atmete er aus, schloss für einen Augenblick die Augen und ging weiter. Er wusste dass es ein Fehler war, egal wie vorsichtig er war, die Kamera würde ihn zwangsläufig erfassen.
Als hätte es nur dieses Stichwortes bedurft drehte sie sich mit einem elektronischen Summen in seine Richtung, folgte jedem seiner Schritte als er auf die Tür zu ging. Robyn bezweifelte, dass sie einen Bewegungs- oder Wärmesensor hatte. Wahrscheinlich saß jemand am anderen Ende und steuerte sie.
Probeweise drückte er die Klinke der Tür herunter, fand sie aber selbstverständlich abgeschlossen vor. Das war klar gewesen. Aber natürlich gab er nicht so schnell auf, kümmerte sich stattdessen nur wieder darum das Schloss zu knacken. Etwas das ihm selbstverständlich gelang geübt wie er darin war. Und zwar ausgesprochen schnell. Einziges Problem dabei war das Klicken einer weiteren Tür im Raum über ihm.
Scheiße.
Sein Herz setzte einen Augenblick aus und er wäre beinahe in Panik geraten, zwang sich jedoch dazu ruhig zu bleiben und sich in den finsteren Raum hinter der Tür zu zwängen. Hastig aber lautlos zog er sie wieder zu, hörte das Schloss leise klicken und hatte sich damit zumindest ein klein wenig Zeit erkauft. Nicht viel, das wusste er, aber besser als nichts.
Schnell zog er sein Handy aus der Tasche, blickte sich mit Hilfe von dessen hellen, elektronischen Lichts in dem Raum um und musste mit vollkommener Verwirrung feststellen dass es sich scheinbar um eine Art kleine, beengte Bibliothek handelte. Nichts weiter. Das einzig andere Möbelstück im Raum war ein geräumiger, schwarzer Schrank mit Schiebetüren. Warum zur Hölle war dieser Raum mit einer Videokamera gesichert und abgeschlossen? Das ergab überhaupt keinen Sinn. Zumal keines der Bücher wirklich wertvoll aussah und sie schienen es auch nicht wert zu sein auf diese Art und Weise versteckt zu werden.
Leise Schritte drangen von außerhalb der Tür an sein Ohr, ließen ihn erschauern und seinen Puls höher schlagen, doch nach wie vor zwang er sich zur Ruhe, blickte sich abermals schnell um und bemerkte ein Regal das etwas merkwürdig auf ihn wirkte. Es sah aus als wäre es in die Wand hinein gebaut, allerdings waren die Bücher viel zu kurz als dass es sich um echte hätte handeln können. 
Bevor er jedoch dazu kam weiter darüber nachzudenken, hörte er wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und wusste dass er sofort handeln musste. So schnell und vorsichtig wie er konnte kletterte er das Bücherregal neben dem in die Wand eingelassen hinauf und quetschte sich in den finsteren Bereich zwischen Regal und Decke.
Keine Sekunde zu früh, denn da ging auch schon die Tür auf und dämmriges weißes Licht flutete den Raum. Gott sei Dank erreichte es ihn dort oben nicht gut und es war hoch genug um nicht sofort entdeckt zu werden. Ein dauerhaftes Versteck würde es aber wohl nicht abgeben. 



Sein Herz schlug ihm bis zum Hals als er die Beiden schwarz gekleideten und bewaffneten Männer durch die merkwürdige Bibliothek schreiten sah. Während der eine hinter dem mittigen Regal verschwand, öffnete der andere die Schranktüren um dort hineinzusehen, die Waffe gezückt vor sich gehalten.
Gott sei Dank hatte er sich nicht dort versteckt. Allerdings... er zögerte kurz, schluckte schwer aber lautlos und bemühte sich darum geräuschlos von seinem Platz auf dem Regal auf die Oberseite des Schrankes zu klettern. Es war gefährlich und er wusste wenn einer der Männer in diesem Augenblick in seine Richtung blickte, würden sie ihn sofort sehen, doch er schaffte es glücklicherweise ungesehen hinüber.
Jetzt musste er nur noch auf der anderen Seite wieder hinunter und darauf hoffen, dass ihn niemand hinter der Tür erwartete. Zu seiner Erleichterung hatten die beiden Männer sie offen stehen und den Schlüssel stecken lassen. Ganz schön dumm aber er würde sich sicher nicht darüber beschweren. 

Er warf einen kurzen Blick zu dem Regal hinter dem der eine Mann verschwunden war, vergewisserte sich davon dass der andere nach wie vor den Schrank genauestens unter die Lupe nahm und ließ sich lautlos seitlich von dem Möbelstück herabgleiten. Ebenso lautlos schlüpfte er nun durch die Tür, zog sie rasch aber ohne den geringsten Laut dabei zu verursachen ins Schloss und drehte den Schlüssel herum. Das Knacken des einrastenden Schlosses war allerdings deutlich hörbar.
Ein erboster Schrei erklang hinter der Tür und der Junge machte sich schleunigst auf den Weg die Treppe hinauf und zurück in das Abstellzimmer. Das einzige Problem dabei war nur, als er oben ankam und hastig in den Eingangsbereich laufen wollte, hörte er ein leises, zischendes Geräusch und keinen Sekundenbruchteil später strömte auch schon ein höllischer Schmerz durch seinen Oberarm. 
Erschrocken und schmerzerfüllt keuchte er auf, stolperte und fing sich gerade noch so als er gegen das Regal knallte. Seine Hand verkrampfte sich in die schmerzende Stelle und er fühlte eine warme, klebrige Flüssigkeit in den Stoff seines Handschuhs sickern. Natürlich wusste er was das zu bedeuten hatte, allerdings war sein Gehirn gerade so beschäftigt mit den ungewohnten Schmerzen dass es diese Information noch nicht ganz verarbeiten konnte.
Ruckartig ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten, entdeckte dabei eine schlanke, weibliche Silhouette die es sich offensichtlich auf einer Truhe neben dem Fenster bequem gemacht hatte. War das... Dawn?
Vor Schmerzen stöhnend blickte er zur Tür und wieder zu der Blondine mit der Pistole in der Hand. Sie zielte auf ihn und in ihren hellen Augen blitzte es in einer Mischung aus unverhohlener Wut und Neugierde auf den Idioten der sich getraut hatte in ihr Haus einzubrechen auf. 
Ihre Stimme klang kalt und berechnend als sie fragte:
„Was willst du hier und wer bist du?“


Da Robyn nicht sofort antwortete sondern abermals einen kurzen Blick zur Tür warf, sah sie sich offenbar dazu genötigt ihm den Ernst der Lage noch einmal bewusst zu machen. Und zwar indem sie abermals auf ihn schoss. Glücklicherweise streifte sie allerdings nur seine Seite, hinterließ jedoch trotzdem eine brennende, blutige Spur dabei die den kleinen Blondschopf mit einem Schmerzenslaut zusammenzucken und sich in Richtung der neuen Verletzung zusammenkrümmen ließ.
Scheiße scheiße scheiße!
Er drohte in Panik zu geraten, hörte wie sein Atem schneller wurde und sein Herz sich ebenfalls noch einmal beschleunigte, während Dawn ihm wütend entgegen fauchte:
„Denk gar nicht erst dran.“
Sie schwieg einen Augenblick in dem Robyn innerlich versuchte sich wieder zur Ruhe zu bringen und zu konzentrieren, wurde dabei jedoch sehr aufmerksam beobachtet bevor die Blondine langsam und mit zu Schlitzen verengten Augen abermals zu zischen begann:
„Sobald ich herausgefunden habe wer du bist, verspreche ich dir, dass du nicht der Einzige sein wirst der dafür zu bezahlen hat. Du hast dich eindeutig mit der Falschen angelegt.“
Na das waren ja wundervolle Aussichten. Unauffällig und ganz so als wäre er aufgrund der Schmerzen gestolpert, näherte er sich der angelehnten Tür, spürte dabei die eisigen Blicke der Mafiosi auf sich. Er hörte wie sie ihre Waffe nachlud, sah wie sie auf seine Beine zielte – wahrscheinlich um zu verhindern dass er einfach davon laufen konnte – und hatte wohl vor im nächsten Augenblick abzudrücken. Doch Robyn ließ es gar nicht erst so weit kommen.
Er packte sich wahllos irgendetwas aus dem Regal in seinem Rücken und warf es der Psychopathin ins Gesicht, wartete aber selbstverständlich nicht ab um zu sehen ob er getroffen hatte. Mit einem einzigen Satz war er aus der Tür, rannte in den Eingangsbereich und schließlich nach draußen. 
Er hörte die Frau hinter sich fluchen, hörte wie eine verirrte Kugel Holz splittern ließ und rannte geradewegs auf das Gartentor zu. Mit einem Satz kletterte er über das Metal, spürte dabei nur umso deutlicher den Streifschuss in seiner Seite und den in seinem Oberarm und musste sich beherrschen um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Der Schmerz war höllisch aber er durfte sich davon jetzt nicht übermannen lassen, sonst war das noch sein geringstes Problem. 
Gott sei Dank waren die Jungs augenblicklich an Ort und Stelle und schienen auch sofort die Lage zu erfassen. Vor allem als vom Haus her die wütende Stimme Dawns dich gefolgt von einem weiteren, zischenden Schuss erklang. Schon hatte Nils ihn gepackt und sich auf den Rücken gehievt, trug ihn nun Huckepack und rannte sofort los, während Keldan sich offensichtlich ganz bewusst von Dawn sehen ließ und in die entgegensetzte Richtung lief.
Der Ältere schien erkannt zu haben dass der Blondschopf sich die Seite verletzt hatte und drückte sich eine Hand auf ungefähr die gleiche Stelle während er davon rannte. 


Wahrscheinlich damit die Verrückte dachte es würde sich dabei um ihn handeln. Es funktionierte. Das Licht war schlecht genug damit sie die Figur Keldans nicht so genau ausmachen konnte und so hetzte sie ihm ihre Männer hinterher. Robyn hoffte nur inständig dass seinem besten Freund nichts passierte.
Im nächsten Augenblick hörte er auch schon ein Motorrad aufheulen und sah ihn mit dem Fahrzeug um die nächste Kurve und aus dem Villenviertel heizen. Nils lief unterdessen im Schutz der Felsen und Sträucher weiter, bis er das dunkle Auto erreichte mit dem sie hierher gekommen waren.
Leise und in hörbar besorgtem Tonfall fragte er wie schlimm es war und ob er ihn ins Krankenhaus bringen sollte, Robyn verneinte, zischte nur ebenso leise dass sie sofort hier weg mussten und das ein Krankenhaus eine Scheiß Idee war. Denn wenn Dawn ihn ausfindig machen wollte, würde sie dort ganz gewiss zuerst nach ihm suchen.
Es war Nils anzusehen dass er ganz und gar nicht begeistert von der Aussicht war den Jüngeren nicht zu einem Arzt bringen zu können, ergab sich aber schließlich vorerst in sein Schicksal und half ihm auf der Beifahrerseite ins Auto zu steigen. Schnell lief er auf die andere Seite, stieg dort in den Wagen und schaltete den Motor aber nicht die Scheinwerfer ein. Ohne Licht fuhr er ein gutes Stück weit von dem Viertel in dem Dawns Villa stand weg, schaltete es schließlich ein und durchquerte nun in normaler Geschwindigkeit die Ortschaft.
„Ich... will jetzt... sofort zu Lucy....“
Er sah wie Nils die Stirn runzelte als er die leisen, schmerzerfüllten Worte hörte und die nur milde unterdrückte Wut darin registrierte. Wahrscheinlich hatte er damit weniger gerechnet, allerdings wusste sein anderer bester Freund auch weniger als er.
Jetzt war der kleine Blondschopf sich noch sicherer als zuvor, dass diese Rache das dümmste war was sie tun konnten. Er wollte das nicht riskieren. Er wollte seine Halbschwestern und Kiroka nicht in Gefahr bringen. Selbst Dakota wollte er lieber in Sicherheit wissen und er war nicht gewillt das für Lucys dumme Rache zu riskieren. Es würde seinen Vater auch nicht wieder lebendig machen. Ganz im Gegenteil würde es wahrscheinlich nur dafür sorgen, dass er noch mehr Menschen verlor.
Eine ganze Weile herrschte Schweigen im Auto, bevor Nils schwer seufzte und bemüht ruhig eine Antwort auf Robyns Aufforderung gab:
„Meinetwegen. Chase hat ohnehin nichts dagegen wenn wir dich mal vorbeibringen, wir haben deswegen schon mit ihm geredet. Ich rufe ihn nur kurz an um ihm Bescheid zu geben in Ordnung? Vielleicht hat er ja auch etwas zum verarzten da...“
Ein knappes Nicken Robyns folgte.


Schweigend lauschte er nun dem knappen Wortwechsel zwischen Nils und diesem Chase – wobei er natürlich nur die Worte seines Kumpels hörte – und schloss schließlich erschöpft die Augen. Sein Arm schmerzte höllisch, überdeckte sogar die Schmerzen in seiner Seite auch wenn die ganz sicher nicht ohne waren. Steckte eine Kugel in seinem Arm? Oder war sie am Knochen vorbei und auf der anderen Seite wieder herausgekommen? Oder fühlte es sich vielleicht auch einfach nur schlimmer an als es eigentlich war? Hoffentlich letzteres, sonst könnte sich das zu einem Problem entwickeln.
„Das war eine dumme Idee....“
, murmelte er leise, hatte die Augen nach wie vor geschlossen und bemühte sich nun wieder darum seinen rasenden Puls ein wenig zu beruhigen. Es half ihm dabei sich ein wenig von dem Brennen in Arm und Seite abzulenken.
„Allerdings, das war es.“


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Eilin


Schweigend und tief versunken in ihre Gedanken saß die junge Mutter im Wohnzimmer auf der modernen, roten Couch mit den bequemen Sofakissen und starrte aus der blitzblanken Terrassentür. Sie hatte sich sacht vorgebeugt, ihre Ellenbogen auf ihren Oberschenkeln und ihren Unterkiefer auf ihren Handballen abgestützt. Das leise Blubbern des Aquariums verursachte ein sacht entspannendes Geräusch, ansonsten war es vollkommen still in dem modernen Häuschen.
Tyson hatte sie für einige Stunden alleine gelassen weil er irgendetwas wichtiges zu erledigen hatte und sie war ganz froh über die einsamen Stunden. Auch wenn es ihr natürlich sehr viel lieber gewesen wäre diese draußen unter dem Licht der warmen Sommersonne zu verbringen und den lauen, sachten Wind auf der Haut zu fühlen. Aber das war natürlich nicht möglich, schließlich war sie nach wie vor eine Gefangene. Und nun nachdem Deirdre nicht mehr hier war, war sie auch noch mutterseelenallein mit dem brünetten Verbrecher.
Es war wohl eine – für ihn - intelligente Entscheidung gewesen sie in seiner Abwesenheit nicht alleine nach draußen in den hoch eingezäunten 'Garten' zu lassen. Der Zaun war zwar eigentlich zu hoch um einfach darüber klettern zu können aber sie hätte sich wohl einfach den Couchtisch und einen Stuhl aus dem Esszimmer geholt, die Möbel gestapelt und mit Hilfe dieser den Zaun überwunden um abzuhauen.
Auch auf die Gefahr hin, sich den Knöchel bei dem Sprung vom Zaun zu verstauchen oder gar zu brechen. Doch daraus wurde nun ja leider ohnehin nichts und die Fenster ließen sich ebenfalls nicht einfach öffnen um hinauszuklettern. 
Deshalb war die Rothaarige mittlerweile auch längst weiter gewandert mit ihren Gedanken. Über ihre Flucht hatte sie die ersten paar Stunden seiner Abwesenheit nachgedacht und war leider zu dem Schluss gekommen, dass dies keine mögliche Gelegenheit dafür war.
Und nun schweifte sie gedanklich bereits seit geraumer Zeit um eine ganz gewisse andere Situation deren Zeuge sie gestern Nacht geworden war. Viel hatte sie zwar nicht mitbekommen, doch als sie plötzlich von leisem Gerede wach geworden und zur Treppe getapst war, hatte sie gerade noch mit angehört wie Tyson sich mit ihrer Tochter unterhalten hatte. 
Im ersten Augenblick war sie fast schon verzweifelt, hatte sich gefragt ob er ihr kleines Mädchen doch gesucht und wieder eingefangen hatte, doch offenbar war die Situation eine ganz andere gewesen.
Sie hatte gehört wie die Zwei über Arjun gesprochen und Tyson sich offenbar mit Deirdre zusammen Gedanken darüber gemacht hatte wo diese zeitweise unterkommen könnte. Auch dass er offenbar verwandt mit dem Jungen war hatte sie mitbekommen. Ein nicht gerade sonderlich erbaulicher Gedanke. Aber wie dem auch sei, Tyson hatte das kleine Mädchen einfach wieder gehen lassen. Er hatte ihr sogar ein Handy gegeben damit sie ihn erreichen konnte.
Eilin verstand beim besten Willen nicht warum.
Nicht dass es sie gestört hätte Deirdre in Freiheit zu wissen. Das war weiß Gott nicht das Problem daran. Das Problem war viel mehr, dass sie den Grund dafür nicht kannte, es schlicht und ergreifend einfach nicht nachvollziehen konnte. Es ergab keinen Sinn. Warum hatte er das getan? Was ging in seinem Kopf vor sich? Und warum ließ er Deirdre gehen aber sie nicht?
Schwer und frustriert atmete die junge Frau aus, vergrub für einige Augenblicke ihr Gesicht in ihren schlanken Händen und lauschte dem plätscherndem Wasser des Aquariums. Irgendetwas stimmte hier doch ganz und gar nicht. Hätte er weiterhin ein Druckmittel gewollt um an Shereena heranzukommen, dann wäre es klüger gewesen sie gehen zu lassen aber Deirdre hier zu behalten.


Das kleine Mädchen hatte doch absolut keine Ahnung wo Ren sich mit den Kindern aufhielt! Eilin war die einzige Person die die Möglichkeit hatte Kontakt zu ihm aufzunehmen und ihn dazu zu bewegen Tyson seine Tochter zu übergeben. Mal ganz davon abgesehen, dass Deirdre ein stärkeres Druckmittel gegen Joel war als sie. Also warum um Himmelswillen ließ er das kleine Mädchen gehen und hielt ausgerechnet sie hier fest? Es ergab einfach keinen Sinn. Und dieser Gedanke war ausgesprochen beunruhigend.
Andererseits war da ja noch das Gespräch vom Vortag... vielleicht hatte er ja wirklich die Wahrheit gesagt. Sicher es hätte auch geschauspielert sein können um sie zu täuschen aber woher hätte er wissen sollen dass sie wieder aufgewacht und das Gespräch mit angehört hatte? Er konnte es nicht wissen.
Da hörte sie auch schon das Klicken der Eingangstür, starrte aus ihren Gedanken gerissen dem den Eingangsbereich betretenden Tyson entgegen. Vielleicht sollte sie ihn einfach fragen weshalb er sie nicht auch einfach gehen ließ? Aber würde er ihr denn die Wahrheit sagen? Woher sollte sie wissen ob er sie belog oder ihr wirklich sagte was Sache war? Vielleicht würde manch einer behaupten er hätte ihr bisher genügend Gründe gegeben ihm zu vertrauen, allerdings sah Eilin das anders.
Nur weil er sie nicht schlecht behandelte und ausgesprochen freundlich zu ihr war, um nicht zu sagen sogar verdammt verführerisch, änderte dies noch immer nichts an dem Umstand, dass er sie hier gefangen hielt und das mehr als offensichtlich gegen ihren Willen. Und wozu? Um sich seine Tochter zu erpressen.
Selbst wenn er dies aus mehr oder weniger 'edlen' Gründen tun sollte, so waren es die Mittel die er dafür verwendete definitiv nicht. Und warum in aller Welt sollte sie jemandem vertrauen, der sie entführt und mit einer Pistole bedroht hatte? Er hatte sogar versucht sie mit Deirdre zu erpressen.
Schön, die Pistole war nicht geladen gewesen und sie bekam immer mehr das Gefühl, dass auch die Erpressung mit Hilfe der kleinen Rothaarigen tatsächlich wenig ernst gemeint gewesen war. Trotzdem hatte er es getan, da konnte man schönreden was man wollte. Eine Erpressung war eine Erpressung und eine Entführung eine Entführung.
Klar, ihre Tochter hatte er mittlerweile gehen lassen und möglicherweise könnte man nun von ihr erwarten ihm etwas Dankbarkeit dafür entgegen zu bringen. Aber warum sollte sie? Er hatte sie verdammt nochmal entführt und von vornherein nicht das geringste Recht dazu gehabt ihre Tochter überhaupt erst bei sich einzusperren!
Sie war nicht dankbar. Und sie würde es auch nicht sein sollte er sie selbst irgendwann gehen lassen.
Allerdings... ihr Blick fixierte sich für einige Herzschläge auf die durchaus attraktive Kehrseite als der Ältere die Tür hinter sich abschloss. Vielleicht ein paar Herzschläge zu lang, denn als er sich herumdrehte und ihren Blick bemerkte, durfte sie beobachten wie sich ein amüsiert charmantes Grinsen auf seine Lippen stahl.


Er wusste ganz genau was für eine Wirkung er auf sie hatte und sie machte es ihm auch nicht gerade sonderlich schwer. Es war zum verzweifeln. Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, je länger sie 'eingesperrt' mit ihm war, desto mehr verfiel sie seinem Charme. Das war doch nicht normal.
„Du siehst mich an als würdest du versuchen mich mit den Augen auszuziehen.“
,witzelte er hörbar belustigt, lachte sogar auf als sie etwas rötlich anlief und ruckartig den Blick abwandte.
„Verwechsel deine Wunschvorstellung nicht mit der Realität.“
Die Antwort schien ihn nur noch mehr zu amüsieren, dem leisen, sachtes Kribbeln im Nacken auslösenden Lachen nach zu urteilen welches im nächsten Augenblick zur Antwort kam. Irgendwann würde sie diese ganze Situation noch verrückt werden lassen. Unglücklich verzog sie das Gesicht, vergrub es verzweifelt schnaubend in ihren Händen als sie auch schon Stoff rascheln hörte und die Nähe des Älteren spürte als er sich neben ihr in die Sofakissen gleiten ließ.
Sie blickte weder auf, noch schenkte sie ihm sonst auch nur das geringste bisschen Aufmerksamkeit. Nein, genau genommen versank sie nun sogar wieder in trübere Gedanken. Und zwar die an ihre kleinen Zwillinge, die ganz allein mit Ren da draußen waren. Natürlich war sie sich sicher, dass ihr älterer Halbbruder sich gut um die zwei kümmerte aber sie waren doch noch so klein! Und Eilin hatte schreckliche Angst, dass die zwei sich ihr entfremden würden. Allein der Gedanke daran ließ ihre Stimmung immer tiefer sinken.
Plötzlich spürte sie die warme Hand Tysons auf ihrer Schulter, seinen heißen Atem an ihrem Ohr als er ihr ihren Namen ins Ohr raunte, dazu ansetzte sogar noch mehr zu sagen. Doch dazu kam er nicht mehr. 


Reflexartig zuckte sie zur Seite, ignorierte das angenehme Kribbeln auf der Haut und wischte seine Hand mit einer ruckartigen, abweisenden Bewegung beiseite. Nicht dass es keine Wirkung mehr auf sie gehabt hätte, ganz im Gegenteil sogar hätte sie sich ihm am liebsten einfach an den Hals geworfen. Aber nicht jetzt. Nicht wenn sie gerade an ihre Zwillinge dachte die sie wegen ihm nicht sehen konnte, die sich wegen ihm von ihr entfremden und sie am Ende vielleicht nicht einmal mehr wiedererkennen würden.
Nun schlug ihre Stimmung gänzlich um. Ihre Augen begannen zu brennen während sie sich mit Tränen füllten und sie konnte spüren wie ihre Gefühle sie zu übermannen drohten. Es war einfach alles zu viel für sie. Sie kam mit dieser ganzen Situation nicht mehr zurecht.
Sie hatte schon zu viel verloren. Nach dem Verlust ihrer Familie hatte sie sich zurückgezogen und sich Joel nur sehr langsam und auch nur ein bisschen geöffnet und gerade als sie gedacht hatte er wäre vielleicht doch kein so übler Kerl und sie könnten zumindest gute Freunde werden, genau dann musste er ihr mit der Wucht eines Faustschlags klarmachen dass er ein verdammtes Arschloch war. Und wann hatte sie das erfahren müssen? Als Lucy, der einzige Mensch aus ihrer Vergangenheit zu dem sie noch eine Verbindung hatte, entführt worden war! Und jetzt saß sie hier, eingesperrt, getrennt von ihren Kindern, vollkommen allein.
Sie sah die Überraschung und Verwirrung in Tysons Blick, spürte wie heiße Tränen über ihre Wangen zu kullern begannen und konnte ein herzerweichendes Schluchzen nicht ganz unterdrücken als sie verzweifelt und trotzdem vor Wut schäumend fauchte:
„Ich ertrage das nicht mehr! Ich will... ich will hier weg... ich will zu meinen Zwillingen... und zu meinem kleinen Mädchen... du hast alles kaputt gemacht....“
Es war nicht zu übersehen, dass der brünette Verbrecher wie vor den Kopf geschlagen war. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Was zur Hölle hatte er erwartet?! Sein Blick machte es fast noch schlimmer, ließ die Wut und Verzweiflung nur noch weiteres Feuer fangen. Nein das war alles definitiv zu viel und nun fing sie auch noch wie ein kleines Kind an hemmungslos zu weinen und zu schluchzen, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
„Sicher... werden Harvey... und Daireann... mich nicht... mal wiedererkennen.... sie... sie... sie werden...“
Ihr jammervolles Stammeln ging in unverständliche Schluchzer über während die junge Frau immer hemmungsloser zu weinen begann. Von dem etwas fassungslos dreinblickenden Tyson nahm sie gar keine weitere Notiz mehr. Sollte er doch gucken wie er wollte, im Augenblick fühlte sie sich zu schlecht als dass es sie interessiert hätte.
Am liebsten hätte sie seine Hand sofort wieder weggeschlagen als er sie abermals auf ihre Schulter legte, hielt allerdings inne als er in einem beruhigenden Tonfall mit ihr zu sprechen begann:
„Du kannst jederzeit gehen, Eilin.“
Was hatte er da gerade gesagt? Hatte er gesagt sie konnte gehen? War das ein Scherz der ganz grausamen Art? Wollte er sie verarschen? Wollte er sie psychisch fertig machen? 


Stumpf und aus verweinten, roten Augen heraus starrte sie den Älteren an, war sichtlich überfordert mit seiner Antwort als sie tonlos brabbelte:
„Wa...rum...?“
Schwer schluckte sie, schniefte und versuchte einen neuerlichen Schluchzer zu unterdrücken.
„Ich hab keinen Grund mehr dich hier festzuhalten.“
Was...?
Auf einen Schlag bekam sie es mit der Angst zu tun. Hatte er Shereena etwa doch gefunden?! Hatte Joel Ren irgendwie ausfindig und davon überzeugen können das kleine Mädchen hierher zu bringen? 
Offenbar waren ihre Gedanken ihr nur allzu deutlich vom Gesicht abzulesen denn Tyson setzte tatsächlich zu einer Erklärung an, seufzte tief und erwiderte mit einem zwar kühlen aber nicht unfreundlichen Tonfall:
„Nein ich habe sie nicht. Aber so wie ich das sehe werde ich sie auf diesem Weg auch nicht bekommen und ich habe nicht vor dir die Beziehung zu deinen Kindern kaputt zu machen nur weil ich verärgert darüber bin dass du mir Shereena nicht freiwillig gibst.“
Nach wie vor starrte Eilin ihn einfach nur an.
Aha?
Sie war irritiert. Irritiert und verunsichert. Sie durfte wirklich gehen? So ganz konnte sie es noch nicht glauben. Irgendwo war da doch ein Haken. Vielleicht würde er ihr folgen um Shereena zu finden? Dachte er sie würde ihn direkt zu ihr führen? 
Langsam beruhigte die junge Frau sich wieder, schniefte noch ein paar Mal und wischte sich die heißen Tränen von den geröteten Wangen. Irgendwas stimmte doch hier nicht. Das meinte er doch nicht ernst? Ihr Blick wandte sich zur Tür, dann wieder zu Tyson. Sie konnte wirklich gehen?
Der Argwohn in ihrem Gesicht nahm zu, veranlasste den Verbrecher dazu mit den Augen zu rollen und schwer zu seufzen. Doch bevor er zu einer weiteren Erklärung ansetzen konnte fragte sie mit misstrauischem und doch nach wie vor sehr unsicherem Blick:
„Du lässt mich wirklich einfach so gehen? Und... was ist mit Lucy? Lässt du sie auch gehen?“
Sie konnte die Antwort auf die zweite Frage in seinen Augen sehen noch bevor er sie ihr in einem kühlen, bestimmenden Tonfall gab:
„Du kannst gehen ja. Lucy nicht.“


„Warum nicht? So wirst du Shereena auch nicht bekommen.“
„Weil ich lieber auf meine Tochter verzichte als dass ich es zulasse dass Lucy sie in Gefahr bringt.“
Was redete er da? Warum sollte Lucy bitte ihre eigene Tochter in Gefahr bringen. Drystan ging es doch auch hervorragend und sie hatte bisher nicht das Gefühl gehabt als würde die junge Frau sich schlecht um ihre Kinder kümmern. 
Abermals schniefte sie, warf einen kurzen Blick auf Tysons Hand die er gerade wieder zurückzog und sah ihm schließlich wieder mit verständnislosem Blick in seine hart gewordenen Züge. Er meinte das ernst. 
„Inwiefern sollte Lucy Shereena denn in Gefahr bringen? Sie ist eine gute Mutter!“
Seine Stirn runzelte sich als er Eilin einen langen, forschenden Blick zuwarf, scheinbar nach irgendetwas suchte. Er schwieg noch einige Herzschläge bevor er in einem trockenen, ruhigen Tonfall fragte:
„Weißt du weshalb Lucy den Kontakt zu mir aufgebaut hat?“
Was war das denn bitte für eine Frage? Natürlich wusste sie es! Also.. zumindest hatte Joel etwas in der Richtung erwähnt.
„Um... an Informationen zu kommen...“
„Hat sie dir auch gesagt was für Informationen sie wollte?“
Eilin verstand nicht ganz worauf der Dunkelhaarige hinauswollte. Mal ganz davon abgesehen, dass Lucy ihr überhaupt nichts erzählt hatte, war ihr nicht ganz klar was das bitte mit Shereena zu tun haben sollte.
„Joel meinte dass sie irgendetwas wegen des Unfalls wissen wollte.“
„Wegen des 'Unfalls'?“
Warum betonte er das Wort 'Unfall' auf diese merkwürdige Art und Weise? Ein mulmiges Gefühl begann sich in ihrem Magen zu bilden. Unsicher vergrub sie ihre Finger in der Jogginghose die Tyson ihr zum anziehen geliehen hatte, starrte ihn fragend wie auch unbehaglich an.
„Naja... der bei dem Lucys und meine Familie umgekommen sind...“
„Das war kein Unfall. Hat sie dir das nicht gesagt?“
Eilin brauchte eine geschlagene Minute um diese Information zu verarbeiten. Was hatte er da gerade gesagt? Das war kein Unfall gewesen? Und Lucy hatte das gewusst?! Warum hatte sie es ihr nicht gesagt? Schmerzliche Enttäuschung breitete sich in der jungen Mutter aus, drohte sie fast schon zu übermannen. Warum? Warum wurde sie nur immer wieder belogen, hintergangen oder im Stich gelassen?
Schwer atmete sie aus, schüttelte zur Antwort endlich den Kopf und stellte trocken fest:
„Nein. Das muss ihr wohl entfallen sein.“


Das musste sie erstmal verdauen. Allerdings war da nach wie vor die Frage was das mit Shereena zu tun hatte. Was für Informationen waren das und was zur Hölle hatte Lucy damit vor? Natürlich sprach sie ihre Frage auf den Gedanken hin auch schon laut aus, musterte Tyson mit gemischten Gefühlen als dieser es ihr erläuterte:
„Lucy will sich an der Frau die für den Mord verantwortlich ist rächen, allerdings ist Dawn eine sehr gefährliche und mächtige Frau und es ist unwahrscheinlich dass sie es schaffen wird. Wenn ihr Versuch fehlschlägt wird Dawn nicht nur sie sondern auch jeden der ihr etwas bedeutet dafür bluten lassen. Was dich und deine Kinder übrigens auch mit einbeziehen könnte. Und selbst wenn es ihr gelingen sollte, würde sie sich dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit andere gefährliche Feinde machen und das selbe Resultat heraufbeschwören.“
Das... war nicht sein Ernst... das war doch eine Lüge. Sowas würde Lucy niemals tun.... oder? Leider war Eilin sich da ganz und gar nicht so sicher. Es passte zu der Rothaarigen. Aber war sie wirklich so egoistisch und selbstsüchtig, dass sie nicht nur sich sondern auch sie und ihre ganze noch übrig gebliebene Familie in eine solche Gefahr brachte? Und noch nicht einmal den Anstand hatte sie davon in Kenntnis zu setzen?
„Aber... weiß sie das? Also... könnten wir sie nicht einfach davon überzeugen, dass sie das lieber lassen sollte?“
Zweifelnd hob der Ältere eine Augenbraue, musterte sie abermals lange bis er ruhig feststellte:
„Ich habe Lucy alles gesagt was ich über Dawn weiß und auch was für Folgen ihre Rache haben würde, egal ob sie gelingt oder nicht. Sie ist besessen davon, sie hat nicht einmal Kontakt zu ihrem Bruder aufgenommen obwohl ich ihr seinen Aufenthaltsort auch ausfindig gemacht habe.“
Ihrem... was?! Robyn war auch noch am Leben?! Ihre Enttäuschung schlug schlagartig in Wut um die sich brodelnd in ihrem Magen zu sammeln begann.
„Weiß Robyn...“
, begann sie, wurde allerdings von einem Kopfschütteln Tysons unterbrochen.
„Nein. Wenn es ihm niemand gesagt hat dann weiß er weder von Lucy und dir, noch davon dass der Unfall ein Mordanschlag gewesen ist. Lucy wusste aber die ganze Zeit dass ihr kleiner Bruder am Leben ist, ihre Rache war ihr schlichtweg wichtiger als ihn wiederzufinden.“


Eilin war fassungslos. Zu der Wut darüber selbst von der Jüngeren belogen worden zu sein, mischte sich nun auch noch ein schwellender Zorn darüber, dass sie den armen kleinen Robyn so selbstsüchtig im Stich gelassen hatte. Der Kleine war damals noch ein Kind gewesen! Wie hatte sie das tun können?! Das konnte sie beim besten Willen nicht nachvollziehen. Eilin an ihrer Stelle hätte alles ihr Mögliche getan um den Jungen so schnell wie möglich ausfindig zu machen, ihm zu sagen dass er nicht alleine war, dass sie für ihn da war so wie eine große Schwester es sein sollte! 
Aber sie hatte ihn nicht nur im Stich gelassen, nein, sie brachte ihn auch noch in eine Gefahr von der er wahrscheinlich nicht einmal etwas ahnte! Zornig vergruben ihre Finger sich fester in die schwarze Jogginghose als sie leise und tonlos zischte:
„Lass mich mit ihr reden. Vielleicht kann ich sie ja zur Vernunft bringen.“
Es war dem Blick des Älteren überdeutlich anzusehen, dass er das stark zu bezweifeln schien allerdings wollte sie es zumindest versuchen. Und wenn er tatsächlich die Wahrheit sagte und Lucy sich wirklich an dieser Dawn rächen wollte, nicht nachgeben würde...
Schwer atmete Eilin aus, schloss für einen Augenblick die Augen und brachte schließlich, den Blick fest auf die hellen Augen ihres Gegenübers gerichtet, hervor:
„Wenn du die Wahrheit sagst und Lucy ihre Rache nicht aufgibt... dann ist Shereena bei dir wahrscheinlich wirklich besser aufgehoben und ich gebe sie dir...“
Stille folgte in der sie einfach nur undefinierbar angestarrt wurde. Sie konnte sehen, dass es hinter Tysons Stirn zu arbeiten begann, er abwägte ob er auf das 'Angebot' eingehen sollte.
„Sie würde dich dafür hassen.“
Bedächtig nickte Eilin, schüttelte schließlich mit einer Mischung aus Wut und Trauer den Kopf. Ihre Stimme war voller Bitterkeit als sie ihm eine Antwort darauf gab:
„Damit werde ich dann wohl leben müssen...“
Allerdings hoffte sie, dass es gar nicht erst so weit kommen würde.
„Na schön. Meinetwegen versuch mit ihr zu reden.“
Nachdenklich wurde sie von ihm gemustert, als er auch schon resignierend seufzte und kopfschüttelnd hinzufügte:
„Ich kann dich Nachhause fahren wenn du möchtest. Oder irgendwo anders hin.“
Sie hatte fast schon wieder vergessen, dass Tyson ja gesagt hatte sie dürfe gehen. Allerdings hatte sie nicht vor jetzt zu ihren Zwillingen zu gehen. Zuerst wollte sie die Sache mit Lucy klären, um nicht riskieren zu müssen dass der Ältere sie übers Ohr haute und ihr heimlich folgen würde um doch selbst an Shereena heran zu kommen.
„Ich möchte zu Lucy.“
„Jetzt?“
„Ja.“
Sein Blick wurde wieder undefinierbar, bohrte sich geradezu in den Ihren als er wohl abzuwägen begann ob das so eine gute Idee war. Aber wenn er die Wahrheit gesagt hatte, dann konnte es ihm ja egal sein ob sie heute oder an einem anderen Tag zu Lucy gingen. Je früher desto besser oder nicht?
Tatsächlich schien er zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, schenkte ihr sogar ein schmales, schiefes Schmunzeln.


„Mir soll es recht sein. Ich werde alles in die Wege leiten, dann können wir heute Nacht meinetwegen sofort zu ihr fahren.“
Heute Nacht. Und danach war sie endlich wieder frei. Egal was dabei rauskam. Und vielleicht konnte ja dann zumindest sie mit Robyn Kontakt aufnehmen, wenn Lucy es schon nicht wollte. Wie es ihm wohl seither ergangen war? Wie alt war er jetzt? Sechzehn oder Siebzehn. Ein Teenager. Ob er sich wohl freuen würde sie zu sehen? Sie hoffte es, sie hatte ihn immer gemocht. Dank der engen Freundschaft ihrer Väter war er fast ein wenig wie ein kleiner Bruder für sie gewesen. Oder ein Cousin. 
Sie seufzte, sah an sich herab und registrierte dabei dass sie ja noch immer Tysons Klamotten trug. Damit sollte sie vielleicht nicht unbedingt dort auftauchen. Sie wollte Lucy definitiv keine falschen Eindrücke vermitteln.
„Ich brauche etwas zum anziehen...“
Das amüsierte, schmale Grinsen in dem Gesicht des Verbrechers war sehr deutlich.
„Mir gefällst du ganz gut in meinen Klamotten.“




„... Lucy wird es wahrscheinlich weniger gefallen.“
Er rollte zur Antwort zwar mit den Augen, allerdings konnte sie es darin trotz allem nach wie vor belustigt aufblitzen sehen. Statt das Thema jedoch weiter zu vertiefen, erhob er sich vom Sofa und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken mitzukommen.

„Ich kann dir ein paar alte Klamotten geben die Lucy hier bei der ein oder anderen Gelegenheit liegen lassen hat.“
Lucys Klamotten? Na hoffentlich war da irgendetwas dabei das nicht ganz so freizügig war... allerdings wagte sie das irgendwie zu bezweifeln. Trotzdem war es besser in der Kleidung der Jüngeren herum zu laufen als ihr in Tysons Klamotten gegenüber zu treten.
Kurz wägte sie ab ob sie nicht vielleicht lieber einfach einen kurzen Abstecher Nachhause machen sollte, entschied sich dann allerdings dagegen. Sie wollte das so schnell wie möglich über die Bühne bringen und sie wollte nicht riskieren dass Tyson sie irgendwie hinters Licht führte. Besser sie war die ganze Zeit in seiner Nähe und bekam alles mit während er 'alles in die Wege leitete'.



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