Donnerstag, 6. Juli 2017

Vorgeschichte Kapitel 28

28. Zu den Akten


Lucy


Lucy hatte ein mehr als nur ungutes Gefühl als Chase mit dem Handy in der Hand und einem unbehaglichen Blick im Gesicht zurück ins Zimmer kam. Er war kurz zuvor aus dem Raum gegangen aufgrund eines Anrufs, scheinbar von einem der Jungs. 
Was war los? War irgendetwas schief gegangen? Soweit sie wusste hatte er etwas erwähnt von wegen dass sie heute in die Villa hatten einsteigen wollen um sich Pläne und sowas zu beschaffen. Komisch daran war allerdings gewesen, dass sie ihr nichts genaues darüber hatten erzählen wollen. Natürlich hatte sie das weniger gut aufgenommen aber es hatte alles nichts gebracht und am Ende hatten sich die zwei Blondschöpfe durchgesetzt. Sehr zu ihrem Ärgernis. Aber sie hatte sich nicht weiter dazu geäußert, sich nur ihren Teil dabei gedacht.
„Was ist los?“
, fragte sie deshalb also in einem ruhigen, nur minimal besorgten Tonfall, veranlasste Chase dadurch natürlich dazu ein wenig die Stirn zu runzeln bevor er dann doch abermals seufzend eine Antwort gab:
„Die Jungs sind auf dem Weg hierher... und sie haben einen Verletzten dabei...“



Einen Verletzten? Wen? Und warum hatten sie noch jemanden mit in ihre Pläne verwickelt?! Je mehr dabei waren, desto unsicherer wurde es! Mal ganz davon abgesehen, dass sie sie nicht einmal vorher davon in Kenntnis gesetzt hatten. Was zur Hölle nochmal sollte das bitte?! Das hier war ihre Rache und nicht die irgendjemandes sonst.
Verärgert verzog sie das Gesicht, schwieg aber vorerst. Sie wollte weder Chase noch einen der Jungs gegen sich aufbringen aber gefallen lassen würde sie es sich auch nicht wenn man hinter ihrem Rücken einfach weitere Personen da mit hinein zog. Sie mochte den Gedanken nicht irgendetwas ihrer Rache aus der Hand zu geben. Was wenn sie jetzt alles verdorben hatten?!
Nicht auszudenken wenn irgendetwas ihr und ihrem Groll in den Weg kommen könnte.
Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, versuchte die Angespanntheit beiseite zu drängen und fragte schließlich etwas gedehnt:
„Einen Verletzten? Wen?“
Und hieß ein Verletzter nicht, dass sie aufgeflogen waren? Nein das gefiel ihr absolut nicht. Unruhig biss sie sich auf der Unterlippe herum, bemerkte den bohrenden Blick des Älteren gar nicht. Erst als dieser wieder zu sprechen begann, sah sie auf und in sein Gesicht, in seine dunklen, grünen Augen.
„Das wird dir nicht gefallen...“
Was wollte er damit sagen?
Ihr Blick verdüsterte sich leicht, doch sie riss sich natürlich zusammen. Auch wenn sie verärgert war und ihr die Decke langsam auf den Kopf fiel, mochte sie Chase doch trotzdem. Mal ganz davon abgesehen, dass er ihr versuchte zu helfen war er auch noch sehr mitfühlend und zuvorkommend. Und vollkommen undankbar wollte sie nun auch nicht sein. Er war nicht verpflichtet ihr zu helfen. Trotzdem wäre es ihr natürlich lieber, sie könnte das alles selbst in die Hand nehmen und einfach abhauen.
„Na schön... und wer ist es?“
„Robyn.“
Ein imaginärer Kübel eiskalten Wassers rann ihr den Rücken hinab, ließ sie zusammenzucken und im Anschluss daran zur Salzsäule erstarren. Das hatte er gerade nicht gesagt. ROBYN?! Was... was hatten die Jungs getan... sie hatten es ihm nicht ernsthaft gesagt... und ihn auch noch mit da rein gezogen?!
Lucy war vollkommen fassungslos. Wie hatten diese zwei Scheißkerle sie nur so hintergehen können! Dabei hatte sie sie fast schon angefleht es ihm nicht zu sagen! Und jetzt war er auch noch verletzt. Wie konnten sie nur. Ihr armer kleiner süßer Bruder verletzt und in Gefahr.
Ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen gepresst starrte die junge Frau aus dem Fenster, begann fieberhaft zu überlegen was sie jetzt tun sollte. 


Robyn war verletzt und auf dem Weg hierher und jetzt musste sie ihm auch noch erklären weshalb sie sich so lange nicht bei ihm gemeldet hatte. Und warum sie ihm nichts von ihrer Rache und allem erzählt hatte. Dabei hatte sie ihn doch gar nicht da mit hineinziehen wollen! Oh nein das war wirklich ein Problem.
Sie musste sich irgendetwas überlegen.
Aber warum? Sie würde ihm einfach die Wahrheit sagen! Sie hatte ihn nicht in Gefahr bringen wollen und überhaupt wäre es nicht viel schlimmer gewesen wenn er sie wieder gehabt und dann nochmal verloren hätte? Was wenn sie bei ihrer Rache ums Leben gekommen wäre? Oder noch kommen würde. Immerhin lag die ja nachwievor vor ihr. Und Lucy hatte weiß Gott nicht vor sie aufzugeben. Für nichts auf der Welt würde sie den Mörder ihres Vaters ungeschoren davonkommen lassen. Niemals.
Plötzlich spürte sie die warme Hand Chase' auf ihrer Schulter, blickte ihm mit einem nur mühsam beherrschten Blick ins Gesicht. Er lächelte ein wenig schief aber beruhigend:
„Hey das wird schon, er ist sicher nicht so schlimm verletzt, sonst wären die Jungs sofort mit ihm ins Krankenhaus, da bin ich sicher. Und wir haben hier ja Verbände und erste Hilfe Kram.“
Lucy war nicht überzeugt. Mal ganz davon abgesehen dass sie gerade eigentlich über etwas anderes nachgedacht hatte... aber stimmt, er hatte ja gesagt mit einem 'Verletzten'. Jetzt bekam sie es doch mit der Angst zu tun. Hoffentlich war es nichts schlimmes sondern nur eine Kleinigkeit. Der Gedanke an ihren verletzten kleinen Bruder ließ ihr schwer ums Herz werden. Sie liebte ihn und sie wollte dass es ihm gut ging.
„Haben sie gesagt was für eine Verletzung Robyn hat...?“
„Ich glaube er ist angeschossen worden aber sie hatten noch keine Zeit die Wunde genauer anzusehen.“
Angeschossen?!
Das Entsetzen stand der jungen Frau unübersehbar ins Gesicht geschrieben und Chase beeilte sich mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck hinzuzufügen:
„Hey es ist sicher nichts ernstes! Sonst wären sie doch sofort ins Krankenhaus gefahren!“


Aber er war angeschossen worden!! Lucy war vollkommen fassungslos. Wie konnte es überhaupt irgendjemand wagen ihren kleinen Bruder anzuschießen. Jetzt hatte sie nur noch mehr Gründe für ihre Rache, diese widerliche Dawn. Oder irgendeiner ihrer Handlanger. Wer auch immer Robyn angeschossen hatte, er würde dafür büßen!
Die Gesundheit ihres Bruders ging aber natürlich erstmal vor und so beeilte sie sich damit mit Chase zusammen das erste Hilfe Zeug und etwas zum reinigen der Verletzung vorzubereiten. Hoffentlich hatte der Brünette recht und es war wirklich nichts ernstes. Allein der Gedanke daran dass Robyn überhaupt verletzt war war ja schon schrecklich aber wäre es dann auch noch etwas schlimmes?! Nein das wollte sie sich gar nicht erst vorstellen.
Nachdem sie gerade dabei waren lauwarmes Wasser in eine kleine Wanne zu füllen, läutete es unten, ließ einen heftigen Schrecken durch die Glieder der jungen Frau fahren. Das musste Robyn sein. Oh Gott, sie hatte sich psychisch noch gar nicht auf diese Begegnung vorbereitet. Was sollte sie zu ihm sagen? Sollte sie ihn in die Arme schließen? Wie würde er reagieren? Er würde sich sicher freuen sie lebend wiederzusehen.
Aber hoffentlich ließ er sich das Mitwirken an ihrer Rache ausreden. Sie wollte ihn nicht da mit reinziehen, sie wollte nicht dass ihm am Ende noch mehr zustieß.
„Ich mach auf, bring du die Wanne ins Zimmer sobald genug Wasser drinnen ist okay? Wir kommen dann gleich hoch.“
Zur Antwort nickte sie nur, lauschte den langsam verklingenden Schritten des Älteren als dieser sich auf den Weg nach unten und zur Tür begab. Sie war aufgeregt und nervös, fühlte sich irgendwie unwohl. Sie hatte Angst um ihren kleinen Bruder.
Wie festgefroren starrte sie in das plätschernde Wasser, lauschte den dumpfen kaum hörbaren Stimmen von unten und drehte den Hahn schließlich zu um zurück in Chase Zimmer zu treten. Rasch und mit sacht zitternden Fingern stellte sie die Wanne auf dem Boden ab, als die Tür auch schon wieder aufgeschoben wurde.
Das erste was sie erblickte war Nils, der den schlanken Arm eines Teenagers um die Schulter hatte und diesen zwar rasch aber vorsichtig mit sich ins Zimmer zog. Es dauerte eine Sekunde bis sie begriff, dass der kleine Blondschopf ihr Bruder war. Robyn. Ihr kleiner Robyn. Er war so groß geworden! Und sein Gesicht war von Schmerz gezeichnet als der Ältere ihn langsam zu Boden, in eine sitzende Position hinabgleiten ließ.
Er sah ihrem Vater so ähnlich... Er hatte seine Augen, seine Nase, seine Haut... ein bisschen fühlte es sich an als würde sie gerade die jüngere, blonde Version ihres Vaters vor Augen haben. Naja die Augenfarbe war auch eine andere aber man sah ihm seine Verwandtschaft mehr als nur eindeutig an.
Als sie ihn da so am Boden sitzen sah, verletzt und mit diesem schmerzerfüllten Blick konnte sie gar nicht anders als neben ihm auf die Knie zu fallen und ihn in die Arme zu schließen. Sie hatte ihn so unendlich vermisst.
„Robyn...“
, kam es ihr kaum hörbar über die Lippen als sie ihn fest an sich drückte. Nur fiel seine Reaktion absolut nicht so aus wie sie sich das vorgestellt hatte. Nein, sie war sogar vollkommen gegenteilig. Der Junge stieß sie mit einer groben Bewegung von sich und fauchte aufgebracht mit sprühendem Zorn in den gequält blickenden Augen:
„Fass mich nicht an!“


Wie vom Donner gerührt saß sie nun da, starrte in seine funkelnden Seelenspiegel die sie geradezu aufzuspießen versuchten während Nils sich rasch neben dem Jungen niederließ, ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legte und mit ihm zu sprechen begann.
Wahrscheinlich irgendetwas beruhigendes aber Lucy hörte gar nicht genau hin, war vollkommen verdattert und verwirrt von der Ablehnung die ihr von ihrem Bruder entgegengebracht wurde. 
Warum? Was hatte sie falsch gemacht?
Schwer schluckte sie, durfte beobachten wie Robyn den Blick wieder von ihr abwandte und seinen blonden Freund ansah. So vollkommen anders als er sie angesehen hatte. Da war zwar nach wie vor Wut aber sie richtete sich nicht auf den jungen Mann sondern nach wie vor auf Lucy... sie verstand nicht was sie da gerade sah.
Ein paar mal musste sie blinzeln um ihre brennenden Augen ein wenig zu beruhigen während sie hilflos mit ansah wie Nils dem Kleineren dabei half seinen Pulli auszuziehen. Ein schlanker, drahtiger Körper, übersät mit dunklen Tattoos kam zum Vorschein. An Seite und Oberarm konnte sie Blut ausmachen, viel Blut. Zu viel Blut wenn es nach ihr ging. Aber wenn es nach ihr gegangen wäre, dann wäre da nicht ein einziger Tropfen der roten Flüssigkeit und Robyn wäre auch nicht verletzt. Leider schien es nicht nach ihr zu gehen. 
„Soweit ich das erkennen kann, handelt es sich bei beiden Verletzungen um Streifschüsse. Der am Arm ist zwar ein bisschen schlimmer aber Beide nicht allzu gravierend.“
Das war Chase' Stimme, der vorsichtig die Wunden in Augenschein nahm. Sie sah wie Robyn ein wenig das Gesicht verzog, ansonsten aber nicht weiter reagierte sondern nun wieder zu Lucy blickte während seine Verletzungen abgetupft und saubergemacht wurden. Wieder dieser Blick. Diese Wut und der... Vorwurf. Das war es. Das waren so viele Vorwürfe in seinem Blick.
Sie wollte schon etwas sagen, als ihr kleiner Bruder auch schon schwer ausatmete und sich ein wenig zu straffen schien bevor er eine einzige, simple Frage stellte.
„Warum?“
Lucy erschauerte ob der Trauer, der Wut und der tiefen, vorwurfsvollen Enttäuschung die in diesem kleinen Wort mitschwang. Das war es also. Er war wütend weil sie sich nicht gemeldet hatte, vielleicht auch wegen der Rache, weil sie das alleine hatte durchziehen wollen. Aber das hatte sie doch nicht grundlos getan!
„Ich... wollte dich doch nur beschützen... ich wollte dich da nicht mit reinziehen...“
Bildete sie sich das ein oder blitzte es nun noch zorniger in seinen Augen auf? Nein. Es war eindeutig an seiner vor Wut zitternden Stimme auszumachen als er ihr eine Antwort gab:
„Blödsinn. Du hättest dich auch melden können ohne mir etwas von deiner Racheaktion zu erzählen.“
„Aber... ich wollte nicht... also ich meine.. was wenn ich dabei drauf gehe...? Dann hättest du mich nochmal verloren!“
„Und deshalb hast du mich beschissene acht Jahre denken lassen du wärst tot?! Glaubst du das ist besser?!“
„Aber... aber ich... ich wollte dich doch nur beschützen...“
„Nein das wolltest du nicht. Du wolltest DICH beschützen weil du den Gedanken nicht ertragen hättest mich auch zu verlieren.“
Das... war wahrscheinlich sogar die Wahrheit. Aber was war so falsch daran? Sie verstand es nicht. Sie wollte doch nur dass er sicher war. Und genau das sprach sie auch aus, erntete dafür allerdings nur einen vor Bitterkeit nur so überschäumenden Blick:
„Aber ich soll damit leben dich verloren zu haben. Weißt du was du bist? Genauso eine egoistische, selbstsüchtige Scheißkuh wie unsere Mutter.“
Und damit wandte er dann auch schon den Blick wieder von ihr ab, während Lucy das Herz in die Hose sackte und ihre Augen wieder zu brennen begannen. 


Warum sagte er sowas? Sie liebte ihn! Sie wollte dass er sicher war! Und sie war ganz sicher nicht wie ihre Mutter!
Eine Weile herrschte erdrückendes Schweigen im Raum während Chase und Nils sich um die Verletzung des Jüngeren kümmerten, sie säuberten, desinfizierten und einen festen Verband anlegten. Nachdem der Brünette ihrem kleinen Bruder schließlich auch noch ein sauberes, schwarzes Hemd von sich reichte, wandte dieser sich wieder Lucy zu.
Er wirkte erschöpft aber nachwievor wütend, vorwurfsvoll, enttäuscht. Am liebsten hätte sie ihn abermals in die Arme geschlossen, ihm gesagt wie Leid es ihr tat und dass sie es nie wieder tun würde. Er sah so verletzlich und jung in dem großen Hemd des Älteren aus! Aber sie tat es nicht. Seine tonlos ausgesprochenen Worte hielten sie davon ab:
„Ich will, dass du diese Rache sein lässt. Du bringst dadurch nicht nur dein eigenes Leben sondern auch meins und das meiner Familie in Gefahr.“
Seiner... Familie? Was meinte er damit? Kiroka und ihre Mutter? Was sollte das? Sie war seine Familie! Und ihre Rache vergessen? Niemals. Auf gar keinen Fall. Ihr Blick wurde hart als sie nun selbst wütend aber verzweifelt erwiderte:
„Niemals! Das kann ich nicht! Dawn hat unseren Vater auf dem Gewissen, dafür muss sie büßen!“
Sie konnte sehen wie es in Robyn scheinbar wieder zu brodeln begann, wie seine Augen sich mit Tränen füllten aber er ein paar mal tief ein und aus atmete bevor er mit zitternder Stimme drohte:
„Ich lasse nicht zu dass du mir meine Familie mit deiner dummen Rache wegnimmst oder sie in Gefahr bringst. Mal ganz davon abgesehen, dass es unseren Vater auch nicht wieder lebendig machen würde.“
„Ich gebe meine Rache nicht auf.“
Sie versteifte sich, ihr Blick wurde hart wie Stein und sie musste wirklich an sich halten. Nein. Auf gar keinen Fall. Vielleicht würde er wütend auf sie sein, vielleicht sogar lange, aber er würde sich wieder beruhigen und er würde ihr verzeihen. Aber sie würde ihre Rache nicht aufgeben.
Auch die heißen Tränen die Robyn nun über die geröteten Wangen liefen würden sie nicht davon abbringen sich zu rächen. Dieses ekelhafte Weib hatte ihr ihren heißgeliebten Vater weggenommen und das konnte Lucy nicht einfach vergessen. Das konnte sie ihr nicht einfach so durchgehen lassen.
„Wie kannst du mir das antun?! Erst lässt du mich Jahre lang denken du wärst tot und jetzt willst du mir das kleine bisschen heile Welt das ich noch habe auch noch kaputt machen! Weißt du was? Dann räch dich doch. Aber wenn du das wirklich durchziehst, komm mir nie wieder unter die Augen du selbstsüchtiges Arschloch!“
Und damit war er auch schon aufgesprungen und schluchzend aus dem Raum gestürmt, ließ eine vollkommen fassungslose und erstarrte Lucy zurück die ihm mit riesigen Augen hinterher starrte. 


Das.. hatte er gerade nicht gesagt... das meinte er nicht ernst...
Ohne es wirklich zu registrieren, konnte sie sehen wie Nils etwas zu Chase sagte und dieser nickte und dem Jüngeren eilig hinterher stapfte, während der Blondhaarige sich ihr zuwandte und vor ihr in die Hocke ging. Das... das war nicht wirklich gerade passiert. Das meinte er nicht ernst. Er war nur wütend. Er würde sich wieder beruhigen. Er würde sich ganz sicher wieder beruhigen.
Ein Schnipsen direkt vor ihrem Gesicht riss sie aus ihren fassungslosen Gedanken, ließ sie geradewegs in Nils dunkle Augen blicken die sie bohrend zu mustern schienen.
„Lucy, hey, hörst du mir zu?“
Sie brauchte einen Augenblick um sich zu fangen, nickte aber schließlich stumpf und erwiderte den Blick des Älteren mit zusammengezogenen Brauen.
„Ich weiß nicht was in deinem Kopf vor sich geht... aber wenn du Robyn nicht verlieren willst, solltest du das mit der Rache wirklich sein lassen.“
Was? Warum redete er jetzt auch noch von so etwas? Was fiel ihm überhaupt ein?! Erst wollte er ihr helfen und jetzt riet er ihr davon ab! Sie fühlte sich hintergangen. Er hatte sie nicht nur an Robyn verraten, er hatte einfach alles zerstört.
„Warum hast du das getan?! Warum hast du Robyn davon erzählt und ihn da mit reingezogen?!“
Ein Stirnrunzeln folgte bis der Ältere schließlich wohl überlegt aber in einem harten Tonfall erwiderte:
„Du hast ihn da mit reingezogen Lucy. Er ist dein Bruder und Dawn wird ihre Wut auch an ihm auslassen wenn du versuchst dich zu rächen.“
„Aber ich habe euch fast schon angefleht es ihm nicht zu sagen! Ihr habt mich hintergangen!“
, gab sie vor Wut fast schon schluchzend von sich, kassierte von Nils dafür allerdings nur einen fast schon mitleidigen Blick. Warum sah er sie so an?! Sie brauchte sein Scheiß Mitleid nicht!


„Erstens haben wir mit keinem einzigen Wort zugestimmt Robyn nichts zu sagen und zweitens sind ich und Keldan seine besten Freunde, er ist wie ein kleiner Bruder für uns und dich kennen wir kaum. Wie kommst du darauf, dass wir ihn für dich hintergehen würden?“
„Ihr habt alles kaputt gemacht damit!“
„Nein, das hast du dir definitiv selbst eingebrockt. Du solltest froh sein dass wir es ihm erzählt haben, denn hätten wir es nicht getan, hätte er es dir vielleicht niemals verziehen. Und jetzt vergiss das mit der Rache doch einfach... Robyn braucht dich und du bist ihm immer noch wichtig. Er ist jetzt wütend und enttäuscht, da reagiert er schon mal über aber wenn du das trotz seiner Warnung durchziehst dann wird er dir das nicht verzeihen.“
„Woher willst du das wissen?! Du kennst ihn doch gar nicht so wie ich!“
Mit einer unwirschen Geste fiel der Ältere ihr ins Wort, wischte ihren Protest einfach beiseite und stellte in hartem, fast schon verärgertem Tonfall klar:
„Ich kenne Robyn besser als du. Du weißt nicht was er die letzten 8 Jahre durchmachen musste und wie sehr ihm der Verlust von seinem Vater und dir zu schaffen gemacht hat! Hast du eigentlich auch nur die geringste Ahnung davon wie weh du ihm getan hast? Und jetzt willst du ihn noch mehr verletzen!“
„Er... er wird mir sicher verzeihen... er... er braucht nur ein bisschen...“
„Nein das wird er nicht. Wenn du das durchziehst, dann wird er dich abschreiben, das kann ich dir versprechen.“
Aber... ihre... Rache... sie konnte das nicht einfach so beiseite schieben. Fieberhaft begann sie zu überlegen was sie machen sollte, wie sie da rauskam. Vielleicht... vielleicht brauchte er nur etwas Zeit? Vielleicht sollte sie ihn notfalls einfach doch mit einbeziehen? Aber sie wollte ihn nicht in Gefahr bringen... aber vielleicht würde er sie dann bei ihrer Rache doch noch unterstützen.
Wurde sie nun wirklich vor die Wahl gestellt? Musste sie sich entscheiden was ihr wichtiger war?
Ihre Rache oder die Liebe ihres kleinen Bruders?


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Robyn 


So oft hatte er sich vorgestellt wie es wäre seine Schwester wiederzusehen, wie es wäre wenn sie nicht gestorben wäre und plötzlich vor seiner Haustür gestanden hätte. Jetzt hatte er bekommen was er sich so sehr gewünscht hatte und es war schrecklich. Seine Schwester hatte sich als selbstsüchtiges, rachsüchtiges Arschloch herausgestellt.
Nicht dass er nicht gewusst hatte wie sie war, wie sie sein konnte aber er hätte nicht erwartet, dass sie ihre Rache ihm vorziehen würde, dass sie sich aus so lächerlichen Gründen heraus nicht bei ihm gemeldet hatte. Sie hatte ihm nicht weh tun wollen? Sie hatte ihn in Sicherheit wissen wollen? 
Lächerlich.
Allein über all ihre Ausreden nachzudenken ließ die Wut nur wieder in seinem Innersten brodeln. Am liebsten hätte er irgendetwas kaputt gemacht, eine der Vasen die neben ihm auf dem kleinen Tischchen standen direkt in den Bildschirm des ausgeschalteten Flachbildfernsehers an der Wand geworfen. Aber er hielt sich natürlich zurück, zählte innerlich immer wieder langsam bis zehn wie sein ehemaliger Psychologe es ihm beigebracht hatte während ihm immer weitere Tränen kamen. 
Er fühlte sich von seiner Schwester im Stich gelassen und hintergangen. Warum tat sie ihm das an? Und dann schwafelte sie irgendwelchen Unsinn damit sie sich selbst besser fühlen konnte. Wahrscheinlich war ihr tatsächlich nicht einmal bewusst wie egoistisch ihr Verhalten eigentlich war.
Er schniefte, wischte sich mit dem Handrücken mehrmals über die Augen als er Schritte von der Treppe kommen hörte. 

Kurz überlegte er ob es sich dabei um Lucy handelte, verwarf den Gedanken allerdings fast sofort wieder. Sie würde ihm nicht folgen um ihn zu trösten. Er hatte es ihr vom Gesicht ablesen können wie wichtig ihr diese lächerliche Rache war.
Natürlich, er konnte es nachvollziehen. Er vermisste seinen Vater auch unendlich und am liebsten hätte er dieser Dawn einfach die Fresse poliert. Aber nicht für den Preis seine Familie dabei in Gefahr zu bringen. Das war es einfach nicht wert. Sein eigenes Leben dafür in Gefahr zu bringen, damit kam er noch klar. Auch dass Lucy sich dafür in Gefahr brachte konnte er akzeptieren, schließlich tat sie es aus freien Stücken. Aber seine Halbschwestern? Kiroka? Selbst Dakota wollte er nicht dieser Gefahr aussetzen. Sie waren alle unschuldig und hatten nichts damit zu tun. Er verstand nicht wie Lucy das einfach so hinnehmen konnte. Hatte sie denn überhaupt kein Gewissen?!
„Hey...“
, erklang da auch schon eine warme, mitfühlende Stimme und zu seiner Überraschung war es nicht Nils der ihm gefolgt war sondern Chase. Wobei das gar nicht so unlogisch war, wenn er so darüber nachdachte konnte er sich gut vorstellen, dass sein bester Freund sich erstmal darum kümmerte Lucy ins Gewissen zu reden.
Schwer ausatmend wischte Robyn sich noch einmal mit dem Handrücken über die Augen und wandte seinen Blick dann dem Brünetten zu der sich gerade neben ihm auf das Sofa plumpsen ließ. Bisher war der Jüngere noch gar nicht dazu gekommen ihm sonderlich viel Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, er war viel zu abgelenkt von Lucy und allem gewesen. Jetzt allerdings hatte er Zeit einen genaueren Blick auf ihn zu werfen.
Er war etwas größer als er selbst, schlank und drahtig aber deutlich muskulöser gebaut und hatte ein sympathisches, freundliches Gesicht. Robyn konnte sich gut vorstellen dass seine dunklen grünen Augen schon viele in ihren Bann gezogen hatten. Er war ihm auf Anhieb sympathisch, weshalb er sich sogar zu einem schiefen, entschuldigenden Lächeln überreden ließ. 


Offenbar war das Erlaubnis genug für den Mann das Wort zu erheben und ihm aufmunternd und warm zuzulächeln:
„Wir sind noch gar nicht dazu gekommen miteinander zu sprechen. Nils und Keldan haben mir schon oft von dir erzählt, freut mich dich endlich mal persönlich kennenzulernen.“
Einen Augenblick zögerte Robyn, war sich nicht sicher ob er im Moment Lust auf Smalltalk hatte, gab sich schließlich aber doch einen Ruck und grinste ein wenig schief bei seiner Antwort:
„Freut mich auch. Tut mir Leid wegen eben...“
„Das muss dir nicht Leid tun, ich kann gut verstehen dass du wütend bist. Würde mir wahrscheinlich nicht anders gehen an deiner Stelle.“
„Hm...“
Robyn war sich da zwar nicht so sicher aber er wollte auch nicht großartig weiter darüber reden und offenbar schien Chase das auch zu merken. Zwar musterte er ihn noch wenige Sekunden nachdenklich, schmunzelte dann aber doch nur wieder herzlich und wechselte freundlicherweise das Thema:
„Du hast ganz schön viele Tattoos, ungewöhnlich für dein Alter.“
Das brachte den Jüngeren sogar dazu abermals ein wenig schief zu grinsen.
„Die habe ich mir gemeinsam mit Nils und Keldan machen lassen. Ein Kumpel von ihnen war gerade mit seiner Tätowiermaschine in der Stadt und ich wollte eine Veränderung. Mein Ziehvater hat ganz große Augen gemacht als er das gesehen hat.“
Leise lachte Robyn bei der Erinnerung daran wie Kiroka darauf reagiert hatte. Er war damals ganz schön entsetzt gewesen und hatte gar nicht gewusst was er sagen sollte, sich schlussendlich aber damit angefreundet. Etwas dran ändern ließ sich im Nachhinein ja ohnehin nicht. Und Dakota? Naja die hatte auch blöd geguckt aber nichts weiter dazu gesagt. Sie interessierte sich eben nicht für ihn.
Hastig schob der Blondschopf die Gedanken an seine Mutter beiseite, er wollte nicht auch noch an den anderen Teil seiner früheren Familie denken der ihn im Stich gelassen hatte. Ein Seufzen glitt ihm über die Lippen und er konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass Chase drauf und dran war etwas zu sagen, doch bevor auch nur ein Wort seine Lippen hätte verlassen können, erklang auch schon die Klingel.
Der Brünette runzelte verwirrt die Stirn meinte dann aber nur Achselzuckend:
„Ich schätze mal dass das Keldan ist, sonst erwarte ich zumindest keinen Besuch...“
Trotzdem wirkte er irgendwie ein wenig unruhig. Merkwürdig. Robyn entschied sich ihm zu folgen als er gemächlich zur Haustür schlenderte. Nun, die Person die da in der Tür stand war definitiv nicht Keldan. Das einzige was die Beiden gemein hatten war die Anzahl der Piercings im Gesicht.


Chase wirkte auch ein wenig verwirrt, allerdings blitzte da auch schon Erkennen in seinem Blick auf und er trat einen Schritt zurück um den braunhaarigen Mann eintreten zu lassen. Dabei begrüßte er ihn dann auch gleich in einem freundlichen wenn auch etwas verunsicherten Tonfall. Ganz so als wüsste er nicht was er von dem Besuch halten sollte.
„Tyson Knight wenn ich mich nicht täusche? Mein Vater ist gerade nicht Zuhause oder wollten sie zu Lucy?“
Er siezte ihn sogar. Aber... Moment... der Name kam ihm bekannt vor. Hatten die Jungs nicht irgendetwas davon erzählt dass ein so genannter Tyson dafür verantwortlich war dass Lucy hier eingesperrt war?
Wenige Sekunden hatte er das Gefühl wütend darüber werden zu müssen, doch es verrauchte so schnell wie es gekommen war. Warum sollte er? Wahrscheinlich war die Tatsache dass sie eingesperrt war der einzige Grund aus dem sie noch nicht versucht hatte ihre Rache alleine durchzuziehen.
„Ich wollte mit Lucy sprechen.“
Kam es da auch schon ruhig und mit einem undefinierbaren Blick von dem Älteren. Seine hellen Augen wanderten durch den Raum und blieben schließlich auf ihm hängen, er konnte deutlich sehen wie es verwirrt und überrascht darin aufblitzte, allerdings hatte der Mann sich gut genug im Griff um sich ansonsten nichts weiter anmerken zu lassen. Naja, bis auf einen merkwürdigen, kurzen Blick über die Schulter und aus der Tür.
Der Grund dafür betrat die Villa keinen Lidschlag später. Robyn erkannte die rothaarige junge Frau fast augenblicklich. Sie hatte sich nicht sehr verändert seit er sie das letzte Mal gesehen hatte – naja bis auf den Kleidungsstil vielleicht - und der kleine Blondschopf konnte gar nicht fassen was er da sah. Eilin lebte auch noch?!
Als ihr Blick auf ihn fiel schien auch sie kurz verwirrt, doch da blitzte auch schon das Erkennen in ihren Augen auf und sie wurden ganz groß vor Überraschung. Keine Sekunde später murmelte sie auch schon ganz benommen:
„Robyn...?“
Dieser starrte sie einfach nur an, überlegte ob sie wohl gewusst hatte dass er noch lebte und ihn auch im Stich gelassen hatte. Die Antwort auf diese Frage folgte auf dem Fuß, denn plötzlich machte sie einen Satz nach vorne, schlang die Arme um ihn und plapperte ganz aufgeregt und mitfühlend drauf los:
„Oh Gott du lebst wirklich noch! Tyson hat mir vorhin erst von dir erzählt! Es tut so gut dich zu sehen! Das muss schrecklich gewesen sein und du warst doch noch so klein!“


Sie hatte es erst erfahren... heute... aber sie wusste von Lucy? Sonst wäre sie nicht hier oder? 
„Wuss... wusstest... du von Lucy... hat sie... nichts von mir gesagt...?“
Einen Augenblick folgte Schweigen und die junge Frau löste die Umarmung, ließ die Hände allerdings auf seinen Schultern während sie ihn aufmerksam musterte. Schließlich schüttelte sie nur mit einer Mischung aus Trauer, Wut und Enttäuschung den Kopf als sie leise erwiderte:
„Lucy ist vor ungefähr drei Jahren bei mir aufgetaucht... aber sie hat mir weder von dir erzählt, noch davon dass du noch lebst und der Unfall kein Unfall war...“
Auch wenn das vielleicht seltsam klang aber ihre Worte waren eine Erleichterung, denn es bedeutete, dass ihn nicht noch ein Mensch im Stich gelassen hatte. Und offenbar hatte Lucy nicht nur ihn belogen... doch die Tatsache, dass sie sich bei Eilin gemeldet hatte, bei ihm allerdings nicht deprimierte ihn dann doch wieder und offenbar sah man ihm das auch an.
„Robyn, hey, das wird schon wieder... wir bekommen das schon hin und... und vielleicht... können wir ja auch wieder mehr Kontakt haben... also wenn du das möchtest...?“
Wenn er das wollte? Sie wirkte nervös und unsicher als sie die Frage stellte, was ihn nun doch ein wenig verwirrte. Warum sollte er es nicht wollen? Seine Stirn runzelte sich kurz, doch dann grinste er ein wenig schief und erwiderte nur leise:
„Sicher doch. Solange du dich nicht an dieser bescheuerten Rache beteiligst...“
Zu seiner Verwunderung blitzte es nicht nur in Eilins sondern auch in den Augen Tysons merkwürdig auf und die Beiden warfen sich einen kurzen, für Robyn nicht wirklich definierbaren Blick zu. Da seufzte die Rothaarige auch schon, schüttelte abermals den Kopf und gab ihm eine wenig begeistert klingende Antwort:
„Nein, das werde ich definitiv nicht tun, keine Sorge. Genaugenommen hoffe ich, dass wir Lucy dazu bewegen können diese Rache sein zu lassen...“
Das war eine Überraschung. Aber eine positive. Leider bezweifelte Robyn dass sie seine Schwester davon überzeugen können würden. Sein Blick wanderte zu Chase welcher ebenfalls wenig überzeugt wirkte, doch er hielt sich schweigend im Hintergrund und wartete einfach nur ab. Wahrscheinlich weil er mit der Sache eigentlich gar nicht wirklich etwas zu tun hatte und sich nicht einfach ungefragt einmischen wollte.
„Bring uns jetzt bitte zu Lucy.“
Mischte sich der bisher ebenfalls schweigend daneben gestandene Tyson nun ins Gespräch, sah dabei allerdings Chase an, welcher mit einem Nicken antwortete und einer beiläufigen Geste die ihnen suggerieren sollte ihm zu folgen. Und das taten sie schließlich auch, alle drei. 



Robyn hatte bereits befürchtet dass Lucy wenig angetan von dem Besuch sein würde – zumindest falls Tyson tatsächlich derjenige war welcher sie hier festhielt – aber die Reaktion die folgte überraschte ihn dann doch. Als sie den Brünetten erblickte verdüsterte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht ganz dramatisch, sie wirkte fast ein bisschen wie ein gereizter Kampfhund auf der Lauer.
„Was willst du denn hier?!“
, kam es da auch schon zischend von der Rothaarigen allerdings war auch der kurze taxierende Blick über die Gestalt des Mannes nicht zu übersehen. Das wiederum verwirrte Robyn ein wenig und ließ ihn irritiert eine Augenbraue heben. Die übrigen Anwesenden schienen weniger überrascht, anscheinend wusste hier jeder mehr über Lucy als ihr kleiner Bruder. Der Gedanke ließ die Wut in seinem Inneren wieder ein wenig brodeln, doch er hielt sich nachwievor zurück und lehnte sich nur mit verschränkten Armen gegen die Wand um das ganze Schauspiel einfach nur beobachten zu können.
Tyson für seinen Teil rollte jedenfalls nur kurz mit den Augen, erwiderte aber nichts weiter darauf, trat stattdessen sogar zur Seite um Eilin Platz zu machen welche von Lucy mit einem vollkommen verdatterten Blick angestarrt wurde.
„Ei...Eilin....? Was machst du... warum bist du... Hat Tyson-“
Angesprochene schnitt der jungen Frau das Wort mit einer unwirschen Handbewegung einfach ab und erwiderte scheinbar nur mühsam beherrscht und mit einem vor Enttäuschung nur so überschäumenden Blick:
„Ich bin wegen dir hier. Und der Racheaktion die du geplant hast.“
Robyn konnte von seinem Standort aus sehr genau erkennen wie bleich seine Schwester auf die Worte hin wurde und auch das Erschrecken in ihren Augen war unübersehbar. Offenbar hatte sie Eilin tatsächlich nichts davon erzählt. Allerdings hielt der Schrecken auch nicht lange an, sie fing sich recht schnell, verzog ein wenig gequält das Gesicht und erwiderte vorsichtig:
„Ich wollte dich da nicht mit reinziehen... ich dachte es wäre besser du wüsstest nichts davon...“
„Aber es betrifft mich genauso sehr wie dich und du ziehst mich da doch ganz automatisch mit rein! Und nicht nur mich, sondern auch Robyn und deine Kinder!“
Ihre... was?! Kinder?! Seine Schwester hatte Kinder?! Wow. Sie hatte sich also nicht nur nicht bei ihm gemeldet, hatte sich alleine rächen wollen und sich nur Eilin gezeigt... nein... sie hatte auch noch eine Familie gegründet die ihn nicht mit einbezog. Das allein widerlegte doch schon alles was sie vorher als Begründung genannt hatte. Warum hatte sie sich nicht bei ihm melden aber dafür Kinder bekommen können? Bei denen war es also nicht so schlimm wenn sie ihre Mutter verloren?! Was zur Hölle lief eigentlich schief im Kopf seiner Schwester.
Langsam aber sicher glaubte der junge Blondschopf, dass seine Schwester einen Psychologen sehr viel nötiger hatte als er. Das sprach er aber natürlich nicht laut aus, lauschte nur weiterhin schweigend dem Gespräch zwischen Lucy und der fassungslos den Kopf schüttelnden Eilin.
„Ich meine bist du verrückt geworden?! Du belügst und hintergehst mich, du lässt deinen kleinen Bruder im Stich und deine Kinder bringst du auch in Gefahr. Lucy ganz im Ernst, du musst diese Rache sein lassen.“



Sofort verdunkelte sich der Blick in dem Gesicht der Rostrothaarigen und für einen Augenblick funkelte sie Tyson an als wolle sie ihm den Hals umdrehen, ganz so als wäre er Schuld an dem was ihre Freundin ihr da an den Kopf warf und von ihr verlangte. Naja... wahrscheinlich war er das wohl auch. Allerdings hatte Robyn wenig Mitleid mit ihr, Eilin war seiner Meinung nach durchaus im Recht.
Lucys Antwort war allerdings zu erwarten gewesen.
„Niemals.“
Plötzlich wandte ihr Blick sich Robyn zu, starrte ihn fast schon flehend an als würde sie seine Unterstützung suchen. Das konnte sie vergessen. Verärgert drehte er den Kopf zur Seite, sah nun aus dem Fenster bis Eilins Stimme wieder durch den Raum hallte, mit einem bitteren aber entschlossenen Tonfall.
„Dann ist Shereena wohl wirklich besser bei Tyson aufgehoben...“
Shereena? War das Lucys Tochter? Und wieso bei Tyson? Es dauerte ein paar Sekunden bis es hinter seiner Stirn klick machte und er jetzt auch den taxierenden Blick von vorhin besser einordnen konnte. So war das also. Seine Schwester hatte wirklich mehr mit ihrer Mutter gemeinsam als sie wahrscheinlich wahrhaben wollte. Aber wenigstens ließ der Ausdruck in ihrem Gesicht vermuten, dass ihre Tochter ihr wichtig zu sein schien.
Anders könnte er sich das blanke Entsetzen und die aufbrausende Wut darin jedenfalls nicht erklären als sie mit sich überschlagender Stimme fauchte:
„Das ist nicht dein Ernst?! Du willst mir meine Tochter wegnehmen und sie Tyson überlassen?! Wie kannst du nur!!!“
„Nein das will ich nicht. Aber erstens hat er genauso ein Recht auf sie wie du und zweitens scheint ihr Wohlergehen dir ja ohnehin nicht allzu sehr am Herzen zu liegen wenn du dich trotz der Gefahr sie da mit reinzuziehen an dieser Dawn rächen willst. Würdest du die Rache einfach sein lassen, würde Tyson dich gehen lassen und auch nicht mehr versuchen dir Shereena wegzunehmen!“
Eisiges Schweigen folgte während dem Lucy nicht nur Eilin wutschäumend musterte sondern auch Tyson immer wieder mit tödlichen Blicken aufzuspießen versuchte. Robyn konnte sehen dass sie zutiefst verletzt war und auch dass sie diese Verletztheit wohl versuchte unter ihrem Zorn zu verstecken trotzdem fiel es ihm schwer Mitleid für sie zu empfinden.
„Aber er wird sie trotzdem sehen wollen!“
„Sie ist auch meine Tochter, Lucy, und du kannst sie nicht wie irgendeinen Gegenstand für dich behalten.“
Wieder wollte sie aufbegehren, allerdings mischte sich Robyn diesmal ein, trat vor und stellte in nüchternem und doch nach wie vor zutiefst enttäuschtem Tonfall fest:
„Warum kannst du das mit der Rache nicht einfach vergessen? Sie macht unseren Vater auch nicht wieder lebendig, ganz im Gegenteil sogar würde es dir nur noch mehr nehmen... das ist es einfach nicht wert...“
Im ersten Moment schien es fast so als wolle sie abermals widersprechen, er konnte regelrecht sehen wie sich alles in ihr sträubte und aufbegehrte, doch plötzlich atmete sie schwer aus, ließ die Schultern hängen und fragte in einem merkwürdigen Tonfall:
„Okay... wenn ich meine Rache aufgebe... dann bleibt Shereena bei mir und ich bin wieder frei?“
„Solange ich sie sehen kann wann ich möchte, ja.“
Wieder folgte Schweigen, er konnte sehen wie es hinter der Stirn seiner Schwester zu arbeiten schien. Über irgendetwas dachte sie nach und schließlich gab sie zum Erstaunen aller tatsächlich nach:
„Schön. Dann bleibt mir wohl keine andere Wahl...“
Ach? Aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund wollte sich bei Robyn keine Erleichterung einstellen und obwohl er sie bei den Meisten anderen in deren Gesichtern erkennen konnte, sah er in dem des brünetten Verbrechers ebenfalls Zweifel. Er glaubte ihr nicht.
Abermals erfüllte Schweigen den Raum, bis Tyson schließlich wieder zu sprechen begann, Lucy dabei undefinierbar anstarrte:
„Du gibst deine Rache einfach auf?“
„Ihr lasst mir ja keine andere Wahl. Bevor ich alles verliere was mir wichtig ist gebe ich sie lieber auf. Kann ich dann jetzt gehen?“
Wieder Stille während der Tysons Augenbraue ein gutes Stück nach oben wanderte, ansonsten blieb sein Blick allerdings undurchdringlich. Trotzdem war Robyn sich ziemlich sicher, dass er ihr nach wie vor keinen Glauben schenkte und auch er selbst war wenig überzeugt von ihren Worten.
„Sicher doch.“
Eine sekundenlange Pause folgte, bis er schließlich mit einer Stimme die unumstößlich eine Warnung aussprach hinzufügte:
„Ich glaube dir kein Wort. Ich warne dich nur einmal, Lucy, falls du dich doch rächen solltest und glaub mir das würde ich mitbekommen, werde ich Shereena zu mir holen. Und zwar ohne darauf zu warten dass sie mir freiwillig gegeben wird.“
Damit wandte er sich auch schon um ohne eine Antwort der jungen Frau abzuwarten, schien gerade aus der Tür gehen zu wollen als er plötzlich Eilin am Handgelenk packte und mit den Worten:
„Ich fahre dich Nachhause, Lucy wird sicher noch einiges mit ihrem kleinen Bruder zu besprechen haben.“
einfach mit sich nach draußen zog. Die Rothaarige wirkte zwar verwirrt und etwas überfordert, sagte aber nichts weiter dazu sondern warf stattdessen ihrer Freundin nur einen kurzen entschuldigenden Blick zu.
„Wir sehen uns Zuhause.“


Kam es ihr gerade noch über die Lippen, da fiel die Tür hinter ihnen auch schon ins Schloss und Robyn hörte nur noch dumpf ihre Stimmen und Schritte die sich langsam entfernten. Jetzt waren sie also wieder allein, er, Chase, Nils und Lucy. Letztere wirkte mehr als irritiert über den Abgang, vielleicht sogar ein wenig verärgert. 
Statt sich allerdings dazu zu äußern, sah sie nun wieder Robyn ins Gesicht, setzte einen unsicheren, vielleicht sogar ein wenig gequälten Blick auf als sie ihn vorsichtig ansprach:
„Es... tut mir Leid... du bist mir natürlich wichtiger als die Rache an dieser Dawn...“
Er hob eine Augenbraue, schwieg allerdings während seine Schwester sich auf die Unterlippe biss und scheinbar nach Worten suchte. Nach einigen Herzschlägen sprach sie auch schon weiter, in einem deutlich versöhnlicherem Tonfall:
„Ich wollte wirklich nur, dass du sicher bist... und dass du mich nicht nochmal verlierst falls etwas schief gehen sollte...“
„Aber damit deinen 'Kindern' so etwas anzutun hast du kein Problem?“
Das hatte gesessen.
Ihr Gesicht wurde leicht bleich und für einen Augenblick schien sie sich wirklich vor den Kopf gestoßen zu fühlen, doch dann fing sie sich wieder, verzog sogar das Gesicht! Er konnte deutlich die Verärgerung aufflammen sehen, doch es interessierte ihn nicht. Sie hatte ihn verletzt, sie hatte ihn im Stich gelassen, jetzt sollte sie mit den Konsequenzen leben.
„Die waren... ungeplant. Aber wie wäre es wenn wir das Zuhause besprechen würden? Wir könnten zusammen in Dads Haus einziehen! Es steht leer seit dem Unfall.“
Was? War das ihr Ernst? Wie zur Hölle nochmal kam sie auf die Schnapsidee er würde mit ihr zusammen irgendwohin ziehen?! Fassungslos schüttelte er den Kopf, konnte aus dem Augenwinkel nur sehen wie Nils sich mit der Hand über die Augen rieb als könne er selbst nicht ganz verstehen was er da eben gehört hatte.
„Red keinen Scheiß Lucy. Ich werde nirgends mit dir zusammen hinziehen. Nachdem du mich im Stich gelassen hast habe ich meine Familie in Kiroka und unseren Halbschwestern gefunden. Und ich werde sie ganz sicher nicht verlassen um bei dir zu leben. Mal ganz davon abgesehen dass ich dort zur Schule gehe und auch meine ganzen Freunde zurücklassen müsste.“
Abermals schüttelte er den Kopf, ignorierte Lucys ungläubiges Gesicht und sah dann stattdessen mit einem schiefen aber durch und durch freundlichen Lächeln zu Chase.
„Ich hoffe es ist in Ordnung wenn ich mir das Hemd ausleihe? Ich brings dir gewaschen und zusammengelegt wieder okay?“
Zur Antwort erhielt er ein unschlüssiges Nicken, das jedoch von einem ebenso freundlichen Schmunzeln begleitet wurde. Trotzdem schien der Brünette sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen als Robyn, dicht gefolgt von Nils, den Raum verließ und ihn mit der vor den Kopf gestoßenen Lucy allein zurückließ.

„Keldan hat mir vorhin geschrieben, er hat seine Verfolger sicher abgeschüttelt.“
Erleichterung machte sich in dem Blondschopf breit als er die Worte hörte, trotzdem starrte er weiterhin aus dem Autofenster in die vorbei rauschende Dunkelheit. Ein leises Seufzen erklang als Nils in einem mitfühlenden Tonfall weiter sprach:
„Gibst du Lucy noch einmal eine Chance?“
„Ich muss darüber nachdenken.“
„Und was ist mit der Rothaarigen? Sie ist Runes Tochter oder? Eilin wenn ich mich nicht verhört habe.“
„Ja, Eilin... ich hab sie schon immer gemocht...“
Er schwieg einen Augenblick, wandte sich nun doch dem auf die Fahrbahn konzentrieren Nils zu, rang sich sogar ein schwaches Lächeln ab:
„Ich würde sie gern wiedersehen. Es fühlt sich an als hätte ich ein bisschen verloren geglaubte Familie wiedergefunden.“
Zur Antwort erhielt er ein Nicken, doch bevor Nils noch mehr hätte sagen können stieß der Jüngere ein schweres Seufzen aus, fügte erschöpft hinzu:
„Ich bin müde... das war alles zu viel auf einmal...“
„Willst du nachhause oder mit zu uns?“
„Ich glaube ich würde lieber Nachhause...“
„Okay, dann schlaf jetzt ne Runde, ich weck dich sobald wir da sind okay?“
„Okay... danke...“
Ein kurzes Schmunzeln Nils' folgte und kurz darauf versuchte Robyn auch schon seinen Rat zu befolgen. Es klappte trotz all den herumschwirrenden Gedanken in seinem Kopf und den Schmerzen in Arm und Seite erstaunlich gut. Keine zehn Minuten später war er tatsächlich in einen erschöpften, leichten Schlaf hinüber gedriftet.

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Eilin


”Was soll das? Ich dachte -”
, begann die junge Frau unwillig, wurde von Tyson allerdings mit einer beiläufigen Handbewegung unterbrochen.
“Steig ein.”
Als ob. Was sollte das? Sie wollte nicht von ihm heimgefahren werden, am besten wäre es, wenn sie so viel Abstand zwischen sich und ihn brachte wie nur irgendwie möglich. Nicht etwa weil seine Nähe sie stören würde... nein... genau das war nämlich das Problem!
Seine Wirkung auf sie hatte nach wie vor nicht nachgelassen und auch wenn er sie nun gehen hatte lassen, war er trotz allem noch ein Entführer und Verbrecher! Es wäre klüger sich von ihm fernzuhalten. Sie wollte schon protestieren als sie sah wie er resignierend mit den Augen rollte und ruhig aber bestimmt klarstellte:
„Stell dich nicht so an. Ich möchte meine Tochter sehen und fahre dich danach nur Nachhause. Ich hab nicht vor dich wieder einzusperren.“
Ach so lief der Hase also.
Einen Augenblick zögerte sie noch, blickte zur Villa zurück und wollte schon etwas sagen, als er abermals das Wort erhob.
„Ich nehme sie Lucy nicht weg solange sie sich an die Abmachung hält. Ich möchte sie nur endlich treffen.“
Sie seufzte. So wirklich überzeugt war sie ja nicht aber sie hatten schließlich eine Abmachung. Ihr Blick blieb einen Augenblick an dem Älteren hängen und kurz ertappte sie sich sogar dabei wie sie ihn sehr ausgiebig zu mustern begann. Als sie allerdings sein schmales, nun wieder leicht amüsiertes Grinsen bemerkte beeilte sie sich damit in den Wagen zu steigen bevor er das hätte kommentieren können.
Glücklicherweise sagte er nichts weiter dazu sondern verhüllte sich den Großteil der Fahrt sogar in Schweigen. Einzig ihre Stimme die hin und wieder Anweisungen gab wo lang er fahren sollte durchbrach anfangs die Stille. Erst als es nur noch wenige Kilometer bis zu ihrem Ziel waren, begann der Ältere wieder zu sprechen und sie konnte spüren dass er sie aus dem Augenwinkel heraus zu mustern schien.
„Wirst du weiterhin mit Lucy zusammenleben?“


Was? Warum fragte er das? Eine Augenbraue leicht hebend sah sie auf und in seine Richtung, erwiderte fragend:
„Ich werde sie sicher nicht rausschmeißen aber ob sie bleiben will weiß ich nicht. Warum fragst du?“
Ein Achselzucken folgte, kurz daran ein paar Sekunden Schweigen welches das Misstrauen in der Jüngeren wachsen ließ, bis er auch schon schmal grinsend zu einer Antwort ansetzte:
„Ich könnte dich auch ab und zu besuchen. Nicht dass du mich am Ende noch vermissen musst.“
„Das hättest du wohl gern.“
Ihre Antwort war zwar recht trocken gewesen, innerlich spürte sie allerdings doch eine gewisse Nervosität und Aufregung. Verdammt nochmal! Warum zur Hölle wollte sie ihn wiedersehen?! Sie sollte froh sein ihn los zu sein und am Besten noch dafür Sorge tragen dass sie ihn nie wiedersehen musste! Allerdings gefiel ihr die Vorstellung nicht. 
Am liebsten hätte sie sich selbst für ihre Gedanken geohrfeigt und schlimmer noch, schien man sie ihr wohl deutlich vom Gesicht ablesen zu können, denn das schmale Grinsen in Tysons Gesicht wurde eine ganze Spur breiter während es abermals amüsiert in seinen Augen aufblitzte.
„Ja, das hätte ich allerdings gern.“
Was?! Verdattert starrte sie ihn an als sie die Worte hörte, dachte darüber nach wie genau er das wohl meinte. Wollte er sie immer noch ins Bett kriegen?! Das konnte er sowas von vergessen. Oder? Nein nichts oder!!! Er konnte es vergessen!
Trotzdem verunsicherte sie die Antwort, erst recht weil er das einfach so ohne Umschweife zugab. Sich auf der Lippe herum kauend unterbrach sie das Gespräch um ihm mitzuteilen dass er die nächste Abzweigung nach rechts abbiegen musste und versuchte dabei den nervösen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.
So ganz gelang es ihr wohl nicht wenn sie sich so seinen Blick ansah. Allerdings hatte sie nicht vor weiter auf das Gespräch einzugehen und glücklicherweise waren sie kurz daran auch schon an ihrem Ziel angelangt.
Nachdem Tyson eingeparkt hatte, konnte sie sehen wie er sich in ihre Richtung drehte, scheinbar das Gespräch von eben noch einen Moment fortsetzen wollte. Diese Gelegenheit würde sie ihm allerdings nicht geben. Fluchtartig schnallte sie sich ab und verließ das Auto, ignorierte sein unwilliges Stirnrunzeln einfach und bedeutete ihm mit einer knappen Geste ihr zu folgen.
Er tat ihr den Gefallen, nahm das Gespräch zu ihrem Pech allerdings wieder auf als er neben ihr her in Richtung des kleinen Häuschens schlenderte.
„Du versuchst vor mir davon zu laufen.“
„Ich laufe nicht davon.“
„Doch das tust du.“


Er wirkte amüsiert, kassierte dafür von ihr jedoch nur einen aufspießenden Seitenblick bevor sie auch schon trocken konterte:
„Selbst wenn es so wäre, wäre es wohl nicht verwunderlich. Immerhin hast du mich und meine Tochter entführt und versucht uns zu erpressen.“
Offenbar amüsierte ihn auch das und Reue suchte sie in seinem Gesicht wohl auch vergebens. Stattdessen zuckte er nur mit den Achseln, erwiderte vollkommen ruhig:
„Du und deine Tochter habt mich zuerst bedroht.“
„Weil du Lucy entführt hast!“
„Sie wollte meine Tochter in Gefahr bringen und mich von ihr fernhalten.“
„Das ist kein Grund sie zu entführen!“
„Mag sein. Aber ich war wütend und hätte ich es nicht getan hätte sie ihre Rache wahrscheinlich längst versucht durchzuziehen.“
Tja, da war natürlich was Wahres dran. Trotzdem war das ja wohl noch lange kein Grund sie einfach zu entführen. Und genau das schmetterte sie ihm auch gleich an den Kopf während sie Ren noch einmal kurz schrieb dass sie nun da waren und er sie reinlassen konnte. Sie hatte ihm vorhin bereits während der Fahrt geschrieben und alles mit ihm abgeklärt.
Zu einer Antwort kam Tyson nicht mehr, da ihr älterer Bruder sehr schnell damit war ihnen die Tür zu öffnen. Kurz warf sie dem Verbrecher noch einen abwägenden Seitenblick zu, bevor sie auch schon Ren mit einem erleichterten Schmunzeln in die Arme schloss und fragte wie es ihren Zwillingen ging. 
„Die zwei schlafen und fragen täglich nach dir. Daireann ist nur noch so am randalieren und tut nichts was man ihr sagt. Harvey ist da deutlich handzahmer gewesen aber auch er fragt unentwegt nach dir. Die zwei werden sicher vor Freude ausflippen sobald sie dich zu Gesicht bekommen.“
Er schmunzelte bei den Worten, während es Eilin gleichermaßen das Herz zerriss weil sie ihre Babys so lange alleine gelassen hatte wie es ihr auch warm darum wurde weil die zwei sich offenbar nicht von ihr verfremdet hatten. Allerdings war es vielleicht ganz gut dass die Beiden im Augenblick gerade schliefen, schließlich hatte sie ja auch Tyson dabei und es war ihr nicht wohl bei dem Gedanken ihn allein mit Shereena zu lassen.
Sie glaubte zwar nicht, dass er sie einfach mitnehmen würde aber man konnte ja nie wissen. Besser ließ sie es gar nicht erst drauf ankommen. Schwer seufzte sie nun also, bemerkte Rens undefinierbaren Blick auf Tyson und meinte schließlich ruhig:
„Ich hab dir ja Bescheid gegeben dass er dabei ist. Wo ist Shereena?“
Ren nickte nur und bedeutete ihnen dann ihm ins Innere des Hauses zu folgen. Er führte sie in ein angrenzendes kleines aber freundliches, helles Schlafzimmer aus dem ihnen bereits die leisen gluckernden Laute eines wachen Babys entgegen kamen.
Einen Augenblick schien Tyson sogar zu zögern, doch als Eilin mit einem Kopfnicken in Richtung des Babys deutete setzte er sich schließlich doch in Bewegung, nahm die Kleine vorsichtig aus dem Bettchen und wiegte sie bedächtig in den Armen. Das kleine Mädchen starrte ihn aus großen Augen heraus an, als er leise mit ihr zu sprechen begann.
Es war... fast schon niedlich wie er ihr davon erzählte wer er war und sie mit den Fingern seiner freien Hand spielen ließ. Keine Minute später gab Shereena auch schon fröhliche, glucksende Geräusche von sich während Tyson sie wieder sanft in den Armen wiegte. Und nicht nur die Kleine strahlte sondern auch ihr Vater grinste ungewohnt weich und liebevoll.


 Jetzt hatte sie fast schon ein schlechtes Gewissen ihn von ihr ferngehalten zu haben... ihrer Meinung nach war es besser für ein Kind wenn es zwei Elternteile hatte. 
Nach einer Weile riss sie sich trotz allem von dem Anblick los und warf Ren einen fragenden Blick zu, welcher von diesem mit einer deutenden Geste in Richtung einer anderen Tür beantwortet wurde. Zögerlich warf sie noch einen letzten Blick auf Vater und Tochter und ließ die Beiden schließlich mit Ren allein zurück. Sie wollte ihre Zwillinge sehen. Sie hatte die Beiden so unglaublich vermisst und ihr Halbbruder würde schon aufpassen dass Tyson ihre Abmachung nicht doch noch brach.
Sie glaubte zwar tatsächlich nicht daran dass er das tun würde aber man konnte ja nie wissen. 
Als sie nun jedoch vorsichtig die Tür aufschob und einen Blick auf die drei nah beieinander stehenden verhältnismäßig kleinen Betten warf, ihre zwei Kleinkinder darin liegen sah, waren alle Bedenken beiseite gefegt. In ihrem Kopf war gerade nur noch Platz für ihre süßen, kleinen Zwillinge.
Und dieses warme Gefühl in ihrem Herzen nahm noch um ein ganzes Stück zu als ihre Tochter sich verschlafen in ihrem Bett aufsetzte, ihre Mutter erblickte und plötzlich laut und weinerlich zu kreischen begann:
„MOMMYYYYYYYYYYY!!!!!“
Wie ein Wirbelwind sprang das kleine Mädchen aus dem Bett, legte sich dabei erstmal auf die Nase, sprang aber sofort wieder auf um auf ihre Mutter zu zurennen und sich ihr regelrecht in die Arme zu werfen. Dabei heulte ihre kleine Daireann Rotz und Wasser und vergrub das Gesicht und ihre kleinen Fingerchen so fest im Stoff des Oberteils ihrer Mutter, dass diese fast schon Angst hatte sie würde den Stoff zerreißen. 
Durch das Geschrei wachte natürlich auch Harvey kurz daran auf, wie auch ihre Tochter, kullerten ihm fast sofort Tränen über die Wangen und er kam auf sie zugestolpert. Allerdings weniger schnell und auch er schmiegte sich jammernd und schluchzend an seine Mommy.
„Hey Schhht alles gut, Mommy ist ja wieder da.“



Beruhigend und nun den Tränen selbst schon sehr nah strich sie den Zweien über die Köpfe und flüsterte ihnen weiterhin beruhigend zu. Sie war so froh ihre Kinder endlich wieder zu haben, endlich wieder frei zu sein.
Vielleicht würde ja jetzt alles wieder gut werden. Oder zumindest so gut wie es in der gegebenen Situation eben werden konnte. Irgendwie würden sie das schon schaffen und so schlecht sah die Zukunft nun doch gar nicht mehr aus oder? Jetzt wo sie endlich wusste wie es wirklich um ihre Beziehung zu Joel stand und sie damit abgeschlossen hatte, hatte sie nun vielleicht sogar die Möglichkeit sich wirklich in jemanden zu verlieben.


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